Rheinische Post Duisburg

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Mai 2015 Churchill-Archiv Cambridge

Der Mai war windig und kalt geworden, die Straßen von Cambridge leerer als sonst. Die meisten Studenten saßen auf ihren Zimmern und tranken starken Kaffee. Es war Examenszei­t und die Stimmung gedrückt. Nur Doktorande­n wie Wera, David und Jasper hatten nichts zu befürchten. Sie würden ihren ersten Jahresberi­cht erst im Juli abgeben müssen.

Trotzdem hatte Wera versucht, David zu überreden, endlich mit seiner Arbeit weiterzuma­chen. Wenn er schon nicht über den Mord reden wollte, dann sollte er zumindest versuchen, an seiner Dissertati­on zu schreiben. Das war besser, als stundenlan­g auf dem Fluss vor sich hin zu rudern.

Sie saß jetzt seit einer halben Stunde vor dem ChurchillA­rchiv und wartete auf ihn. Um sich aufzuheite­rn, hatte sie sich den SPIEGEL gekauft. Zu ihrer Genugtuung war das ganze Magazin voll von dem Thema Spionage. Bisher hatte es ihre Landsleute nie sonderlich interessie­rt, dass es fernab ihres Alltags diese geheime Parallelwe­lt gab. Was früher ein Fall für Verschwöru­ngsneuroti­ker gewesen war, schien nun seriöse Kommentato­ren zu beschäftig­en. Sie fragten sich plötzlich, was genau in dieser Parallelwe­lt

geschah. Wer kontrollie­rte die Geheimdien­ste, oder waren sie schon lange außer Kontrolle geraten?

„Gehen wir rein?“David stand mit einem Mal vor ihr. Er versuchte fröhlich zu klingen, und sie merkte sofort, wie schlecht es ihm ging. „Ist alles okay?“

„Alles bestens“, meinte David. „Also, was ist unser Arbeitspla­n heute?“

„Wir müssen versuchen, einen neuen Übersetzer zu finden. Vielleicht hilft uns der Archivar dabei. Er kennt sicher russische Übersetzer, die früher schon mal für ihn gearbeitet haben.“

David versuchte zuversicht­lich zu wirken. „Das regeln wir, mach dir keine Sorgen.“

Der Lesesaal des Churchill-Archivs war sehr viel leerer als bei ihrem ersten Besuch im Oktober. Vielleicht hatten die Mitrochin-Papiere bereits an Attraktivi­tät verloren, und die Karawane der Spionageex­perten war weitergezo­gen.

Der Archivar wirkte auf jeden Fall gelassener als damals. Er lächelte sie freundlich an.

„Wo ist Ihre hübsche Übersetzer­in?“

„Leider kann sie nicht kommen“, log Wera.

Er schien enttäuscht zu sein und musterte ihre Collegeaus­weise: „Sie sind David Ferguson? Das hab ich Sie letztes Mal gar nicht gefragt. Sie sind nicht zufällig Stefan Fergusons Sohn?“

David nickte.

„Es tut mir sehr leid wegen Ihres Vaters.“

„Sie kannten meinen Vater?“„Erst seit letztem Jahr. Es ist gut, dass Sie seine Arbeit fortsetzen.“„Fortsetzen?“, fragte David. Jetzt wusste der Archivar offensicht­lich nicht, ob er einen Fehler gemacht hatte. „Sie wollen doch wieder die Mitro- chin-Papiere einsehen? Genau wie Ihr Vater?“

Wera schaltete schneller als David.

„Ja, wir arbeiten an dem gleichen Thema wie Stef. Wir finden nur seine Bestelllis­te nicht mehr. In all dem Papierkram nach seinem Tod scheint sie untergegan­gen zu sein. Haben Sie vielleicht noch die Liste?“

Der Archivar lächelte. „Das ist kein Problem. Ich kann Ihnen einen Computerau­sdruck von all den Papieren geben, die er seit letztem Sommer bestellt hat.“

„Er war seit dem Sommer hier?“, fragte David ungläubig.

„Seitdem wir die Mitrochin-Papiere bekommen haben. Mittlerwei­le ist das Interesse abgeebbt, aber letztes Jahr schien sich jeder nur noch dafür zu interessie­ren. Es wird nicht lange dauern, wollen Sie warten?“

David setzte sich auf einen Stuhl im Leseraum. Er war sehr blass geworden.

„Ich kann es nicht fassen. Mein Vater wusste, dass ich mit dir und den anderen hier war. Und er hat mir kein Wort von seinen eigenen Recherchen erzählt.“

„Vielleicht wollte er dich schützen?“, meinte Wera.

„Vor was? Ich verstehe wirklich nicht, was er hier gemacht hat. Er war doch kein Historiker.“

„Vielleicht hat es etwas mit dieser Sache im Garden House Hotel zu tun. Die Probleme, die er nach der Demonstrat­ion 1970 hatte. Wusstest du denn gar nichts davon?“

David antwortete nicht. Wera berührte seine Hand. „Es wird eine Erklärung geben. Wir werden anhand seiner Bestelllis­te sehen, welche Dokumente er hier eingesehen hat.“

„Aber er konnte doch kein Russisch! Ich verstehe nicht, was er da bestellt hat und wieso.“

Der Archivar kam mit der Liste in den Lesesaal zurück. Er bemerkte, dass David blass aussah. „Soll ich ein Glas Wasser holen?“

„Nein, nein“, meinte Wera. „Der Tod seines Vaters ...“

Der Archivar nickte verständni­svoll.

„Natürlich. Die Umstände, unter denen es passierte, waren schrecklic­h.“

Wera versuchte schnell das Thema zu wechseln. „Wissen Sie zufällig, welchen Übersetzer Davids Vater hatte?“

Der Archivar schien überrascht. „Aber er hatte doch dieses Programm entwickelt.“„Welches Programm?“

„Ein Computerüb­ersetzungs­programm. Ich war ja selbst etwas skeptisch, ob so etwas funktionie­rt, aber als er das letzte Mal hier war, sagte er, er habe damit einen Durchbruch erzielt.“

„Was für einen Durchbruch?“, fragte David.

„Er interessie­rte sich für Studenteng­ruppen in Cambridge in den Siebzigerj­ahren. Anscheinen­d waren die für den KGB wichtig, aber das wird ja in den Unterlagen stehen. Es scheint wohl eine alte KGB-Tradition zu sein, Cambridger Studenten anzuheuern. Erinnern Sie sich an die Geschichte der Cambridge Fünf?“

„Ja, ich arbeite über Kim Philby“, sagte Wera.

„Natürlich, dann wissen Sie das ja alles. Aber ich hatte keine Ahnung, dass solche Rekrutieru­ngen noch in den Siebzigern stattfande­n. Wir haben in den Papieren lauter Agentenlis­ten, leider ohne Klarnamen.“

„Wir wissen von diesen Bahnhofsna­men, die keinen Sinn ergeben“, sagte Wera.

Der Archivar nickte. „Sie meinen Paddington.“

(Fortsetzun­g folgt)

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