Es gibt nicht nur einen Rudi Völler
Der Geschäftsführer Sport von Fußball-Bundesligist Bayer Leverkusen über Karnevalskostüme und den Sittenverfall in der Bundesliga.
DÜSSELDORF Für Rudi Völler ist es fast ein Heimspiel. „Tante Käthe“, wie der Geschäftsführer Sport von Bayer Leverkusen noch immer liebevoll genannt wird, wohnt unweit der Düsseldorfer Altstadt. Bis zur Rheinischen Post im Stadtteil Heerdt hat der 58-Jährigen eine kurze Anreise. An diesem Tag sind viele Karnevalisten beim Prinzenempfang. Völler marschiert grinsend an den Jecken vorbei und verteilt Schulterklopfer. Eine ältere Dame sagt zu ihrer Begleitung: „Guck dir dat an, de hat sich als Rudi Völler verkleidet.“Völler lacht, verzichtet aber auf eine Auflösung aus Angst vor einem zu großen Auflauf – er muss zu einem wichtigen Anschlusstermin nach Leverkusen.
Herr Völler, Sie gehören zu den wenigen Menschen, die an Karneval als ihr eigenes Kostüm gehen könnten. Als was würden Sie sich alternativ verkleiden?
VÖLLER (schmunzelt) Wenn ich morgens wach werde und die wenigen Haare, die mir geblieben sind, kreuz und quer stehen, gibt es unbestreitbar eine gewisse Ähnlichkeit mit Albert Einstein. Oder vielleicht auch mit Dr. Emmett Brown aus dem Film „Zurück in die Zukunft“. Daher würde ich wohl als einer von den beiden gehen. Aber ein klassischer Karnevalist bin ich nicht.
Sie wohnen seit vielen Jahren in Düsseldorf. Wo ist für Sie Heimat? VÖLLER Wenn du Fußballprofi, Trainer und Manager gewesen bist, ist der Heimatbegriff sehr dehnbar. Letztlich ist für mich Heimat dort, wo meine Familie ist. Meine Frau wird auch entscheiden, wo wir später leben. Ich habe mich aber bislang überall wohl gefühlt: in Hanau, Offenbach, München, Bremen, Rom, Marseille und auch in Leverkusen und Düsseldorf.
In der Liga lief es für die Werkself bis zum 2:3 in Dortmund unter Trainer Peter Bosz zuletzt wieder besser. Liegt das vor allem am neuen Offensivstil, den der Niederländer mitgebracht hat?
VÖLLER Es ist ja nicht so, dass wir mit Heiko Herrlich total defensiv gespielt hätten. Was sich vor allem verändert hat, ist das permanente Attackieren wie damals schon unter Roger Schmidt. Oft sind es Kleinigkeiten, die den Unterschied machen. Schmidt hat damals Benjamin Henrichs neu erfunden, ihn zum Rechtsverteidiger umgeschult, als der er dann auch Nationalspieler wurde. Auch Julian Brandt blüht in seiner neuen Rolle im zentralen, offensiven Mittelfeld auf.
Wie weit kann Bayer mit dieser Art Fußball kommen? Aus den nationalen und internationalen Pokal-Wettbewerben hat sich Leverkusen bereits verabschiedet. VÖLLER Gegen Krasnodar war uns klar, dass es eine 50/50-Geschichte wird. Das ist ein Klub wie hierzulande RB Leipzig, der sozusagen neu erfunden wurde und über fantastische Möglichkeiten verfügt. Das Pokal-Aus gegen Heidenheim hat uns wehgetan – bei allem Respekt vor dem Gegner. Das waren zwei Wettbewerbe, wo wir hätten weit kommen können. Wir müssen nun zusehen, dass wir in den letzten elf Liga-Spielen so viele Punkte holen, dass wir wieder unter den Top sechs landen und international spielen. Nach dem 2:3 in Dortmund haben wir uns auch geschworen, dass wir gut genug sind, das zu schaffen.
Julian Brandt und Kai Havertz bilden derzeit ein starkes Mittelfeld-Duo in der Werkself. Inwiefern können beide schon bei der EM 2020 auch in der Nationalmannschaft prägende Figuren sein? VÖLLER Es spricht aber auch wirklich gar nichts dagegen, dass sie bei der Euro eine gewichtige Rolle spielen. Beide haben zweifellos die fußballerische Klasse dafür.
Vor einigen Monaten haben Sie offen über ihr bevorstehendes Karriereende unter dem Bayer-Kreuz gesprochen, beschäftigen sich also schon mit der Rente. Werden Sie ihren Vertrag, der bis 2022 gültig ist, erfüllen?
VÖLLER Unabhängig von der Ver- tragslänge ist mein Verhältnis zum Klub und auch zur Bayer AG und Werner Wenning, dem Aufsichtsratsvorsitzenden, sehr eng. Wir sind ständig im Austausch darüber, wie es für mich und vor allem für den Klub weitergehen könnte. Das hat nichts mit der Vertragsdauer zu tun. Natürlich haben wir damals gesagt, dass der Vertrag für fünf Jahre verlängert wird, obwohl dabei immer klar war, dass wir nach Alternativen für die Zukunft schauen.
Es ist kein Geheimnis, dass Sportdirektor Simon Rolfes ein Kandidat auf Ihre Nachfolge ist. Was qualifiziert ihn für diese Aufgabe besonders – und wie schlägt sich Stefan Kießling als Ihr Assistent?
VÖLLER Ich hatte schon immer den Wunsch, die neue Generation einzuarbeiten, nicht nur, weil ich nächstes Jahr 60 werde. Ich dachte, dass es Jonas Boldt werden könnte, was aus verschiedenen Gründen dann nicht funktioniert hat. Meine Nachfolger sollten Stallgeruch mitbringen, aber müssen natürlich auch das nötige Know-how haben. Nicht jeder, der mal bei uns gekickt hat, bekommt gleich eine wichtige Position. Simon Rolfes bringt natürlich alles mit. Mit seiner ruhigen, sachlichen Art sowie seinem Fußballsachverstand kann er den Verein in die nächste Generation führen. Auch Stefan Kießling macht sich gut und geht in seiner neuen Arbeit auf – auch er gehört
zur neuen Generation.
Inwiefern hat sich die Arbeit auf Funktionärsebene im Laufe der Jahre verändert?
VÖLLER Früher gab es in den Klubs fast nur Alleinunterhalter. Die gibt es heute nicht mehr, auch wenn einige Handlungsträger medial vielleicht präsenter als andere sind. Die Verantwortung wird inzwischen bei fast allen Klubs auf mehrere Schultern verteilt, Entscheidungen werden im Team getroffen. Und das ist auch gut so. Nicht nur, weil es um viel, viel mehr Geld als noch vor 20 Jahren geht, sondern auch, um über Transfers intern kontrovers diskutieren zu können. Alleingänge gibt es nicht mehr.
Was unterscheidet den Familien- VÖLLER Wenn man so eine Verantwortung trägt, kann man sich nie so richtig vom Job befreien. Du bist immer erreichbar, bist immer im Dienst. Das ist für den Partner manchmal schwer zu verstehen. Meine Frau schüttelt auch den Kopf, wenn ich dann abends vor dem Fernseher sitze und mir noch zusätzlich ein Drittligaspiel schaue. So ist das aber, wenn man den Fußball liebt.
Reizt Sie ein Job als TV-Experte? VÖLLER Ich habe ja schon in der Vergangenheit für einige Sender gearbeitet. Klar kann ich mir das vorstellen, aber aktuell ist das noch kein Thema für mich.
Bundestrainer Joachim Löw hat zuletzt den Sittenverfall bei Fußballprofis angeprangert. Spricht er Ihnen damit aus dem Herzen? VÖLLER Schwalbenkönige oder Spieler, die Platzverweise provozieren, gab es schon immer. Bei internationalen Spielen sieht man das weniger, weil die Schiedsrichter dort anders pfeifen. Da wissen die Spieler, dass sie nicht schauspielern brauchen. Wir haben auch in der Bundesliga Top-Schiedsrichter, aber sie pfeifen anders als in der Champions League. Dort lassen sie mehr laufen und geben seltener Karten. Chelsea-Torwart Kepa Arrizabalaga hat im Finale um den englischen Liga-Pokal seine Auswechslung verweigert. Und nun? VÖLLER Ich weiß nicht, ob es ein Missverständnis war, aber es sieht natürlich blöd aus. Der Spielführer oder ein anderer erfahrenerer Spieler hätte ihn da zurechtweisen, auf dem Platz eingreifen müssen. Zum Kapitänsein gehört mehr, als nur den Wimpel zu tauschen und auf dem Mannschaftsfoto die Binde zu tragen. Aber so etwas kann in jedem Klub vorkommen. Auch bei uns haben sich schon Spieler um einen Elfmeter gestritten, wie damals Arturo Vidal und Michael Ballack. Da braucht es Leute auf dem Platz, die sagen: „So geht das nicht.“Man muss auch mal ein Machtwort sprechen.
Sie sind ein großer Fan der amerikanischen Soul-Band „The Temptations“. Welcher ihrer Song-Titel beschreibt Ihr Verhältnis zu Bayer Leverkusen am ehesten: „I’ll be in trouble“, „It’s growing“oder „Don’t look back“?
VÖLLER Ich habe drei bis fünf Lieblingssongs, das sind sicher nicht die bekanntesten. Aber „Don’t look back“(Schau nicht zurück, Anmerkung der Redaktion) passt schon ganz gut.