Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Wieso Paddington?“, fragte David. „Weil Ihr Vater sagte, das wäre der Student gewesen, den die KGB-Leute damals in Cambridge rekrutiert hätten. Er wollte herausfinden, wer Paddington war.“
7. Mai 2015 Glisson Road Cambridge
Zwei Tage lang hatten sie nach Stefs russischem Übersetzungsprogramm gesucht. Weder zu Hause noch im Labor konnten sie irgendeinen Hinweis darauf finden. Am Abend des 7. Mai gaben sie auf. Es war Wahlnacht, und die gesamte britische Nation saß vor dem Fernseher, um die ersten Hochrechnungen zu sehen. Nur David schien sich dafür nicht zu interessieren. Er schlug Wera vor, stattdes- sen eine DVD anzuschauen. Sie war von seinem politischen Desinteresse alles andere als beeindruckt.
„Willst du nicht vorher wenigstens die Hochrechnungen erfahren?“„Wieso?“
„Weil du Brite bist und dich dafür interessieren solltest, wer in den nächsten fünf Jahren dein Land regiert.“
David hantierte an dem DVD-Recorder.
„Ich weiß, wie es ausgehen wird. Die Konservativen bekommen die absolute Mehrheit.“
„Machst du Witze? Alle Umfragen sagen, niemand wird eine Mehrheit bekommen, eine neue Koalition wird nötig sein, und das wird wochenlange Verhandlungen nach sich ziehen.“
David schob die DVD ein. „Das ist Quatsch. Die Meinungs- forschungsinstitute falsch.“
„Ah ja?“
„Denk doch mal nach, Wera. Alle sagen, dass dreißig Prozent der Wähler unentschieden sind.“„Und?“
„Ich bin selbst unentschieden. Und was machen Leute, die sich nicht ganz sicher sind?“„Was?“
„Sie gehen auf Nummer sicher. Sie gehen keine Risiken ein, sie wählen das, was sie bereits kennen. Sie wählen die Konservativen.“
„Hast du die Konservativen gewählt?“, fragte Wera.
„Ich habe gar nicht gewählt, nach unserem ewigen Suchmarathon hatte ich keine Energie mehr dafür. Stattdessen habe ich diese DVD für uns gekauft.“
Er hielt sie in die Höhe. Es war der Kinderfilm „Pad- dington“.
„An Weihnachten wollte mein Vater unbedingt mit mir in den Paddington-Film gehen. Er mochte diese Kinderfilme, ausgerechnet ein rationaler Mann wie er. Also bin ich mitgekommen. Aber das Merkwürdige war, der Film baute ihn überhaupt nicht auf. Er lachte kein einziges Mal. Nach dem Film war er völlig weggetreten. Wir gingen nach Hause, und er sagte: >Paddington, das ist der Dufflecoat“„
„Du meinst, Paddington trägt einen Dufflecoat“, verbesserte Wera ihn.
„Ja, natürlich trägt der Bär einen Dufflecoat, dafür ist er ja berühmt. Das ist sein Markenzeichen, dieser altmodische Dufflecoat. Aber mein Vater schien etwas anderes zu mei- nen, Paddington erinnerte ihn an jemanden im Dufflecoat. Überleg doch mal. Er war vor uns im Archiv und hoffte etwas über den
liegen
alle Vorfall im Garden House herauszufinden. Er wollte verstehen, ob es damals einen Verräter in ihrer Studentengruppe gab und für wen der arbeitete. Dann las er in den Mitrochin-Papieren all diese Bahnhofsnamen für britische Studenten, die die Russen in den Siebzigerjahren anwarben. Für uns ergeben sie keinen Sinn. Aber er kannte ja die Studenten hier in Cambridge. Er verstand, dass es sich bei Paddington nicht um den Bahnhof Paddington, sondern um den Bären handelte.“
„Der Bär ist doch nach dem Bahnhof benannt“, meinte Wera.
„Ja sicher, man assoziiert ihn mit dem Bahnhof, aber denk doch mal nach, womit assoziiert man ihn noch? Mit dem Schlapphut, dem Koffer mit Marmeladengläsern, die er bei sich trägt, dem Schild um den Hals und dem Dufflecoat. Der Student, der im Garden House dabei war und die Steine warf, muss einen Dufflecoat getragen haben.“
„Das könnte sein. Aber waren Dufflecoats zu der Zeit nicht Mode? Hatte nicht jeder einen?“
„Bestimmt. Aber die Farbe könnte eine Rolle spielen. Der Paddington-Bär trägt immer einen blauen Dufflecoat. Es gibt in Spielzeugläden auch Paddingtons mit roten zu kaufen, aber im Original ist er blau. Es muss jemand mit einem blauen Dufflecoat gewesen sein, an den mein Vater sich erinnerte. Es ist wie bei den Codenamen deiner Cambridge Fünf. Wenn man den Kontext kennt, sind die Codenamen fast zu offensichtlich - >Waise< für Maclean, der gerade seinen Vater verloren hat, >Mädchen< für den schwulen Burgess und >Söhnchen< für Philby mit seinem Vaterkomplex.“
Wera nickte. „Und dann ist da im- mer noch der Codename >Professor<, der nie entschlüsselt wurde.“
„Ja, aber wer auch immer dieser ‚Professor’ war, der mit Philby arbeitete, der ist sicher seit Jahrzehnten tot. Mich interessiert viel mehr ein lebender Professor.“
„Du glaubst, Jasper hat recht, und es war wirklich Hunt?“
„Warum sonst ist mein Vater in Hunts Zimmer umgebracht worden?“
8. Mai 2015 Addenbrookes-Krankenhaus Cambridge
Nur einen Tag nachdem die Wahl überstanden war, brach wieder eine dieser unseligen Erinnerungsfeiern über die Nation herein - Victory in Europe Day, siebzig Jahre Kriegsende in Europa. Hunt gingen diese Feiern maßlos auf die Nerven, seiner Meinung nach verschleierte die Erinnerungsmanie, dass alle Nationen auf dem Prinzip der Amnesie aufgebaut waren. Natürlich wollte so etwas keiner zugeben; jeder Anlass, um Fahnen zu schwenken und neue Erinnerungsorte zu inszenieren, war den Leuten recht. Hunt würde keine Fahnen schwenken und auch nicht seine lange vorbereitete Rede halten.
Ursprünglich hatte die Universitätsleitung ihn als Festredner eingeladen, doch nach dem Mord an Stef war er wieder ausgeladen worden. Professor Brendan Simms sollte nun den Vortrag an seiner Stelle halten. Mittlerweile war es Hunt egal, von wem er ausgeladen wurde. In gewisser Weise gab es ihm seine alte Freiheit zurück.
(Fortsetzung folgt)