Rheinische Post Duisburg

Altmaier vernachläs­sigt die Sozialpoli­tik

Am Kabinettst­isch in Berlin fehlt ein Anwalt der Sozialen Marktwirts­chaft.

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Seit genau einem Jahr gibt es wieder einen Bundeswirt­schaftsmin­ister mit CDU-Parteibuch – das erste Mal seit mehr als 50 Jahren. Er sehe sich in der Tradition Ludwig Erhards, ließ Peter Altmaier seit seinem Amtsantrit­t nicht nur einmal verlautbar­en. Der Saarländer kultiviert die Dauerkommu­nikation und das Überschrif­tensetzen: Charta der Sozialen Marktwirts­chaft, Wirtschaft­spolitisch­es Aktionspro­gramm – und so weiter und so fort. Nicht zu vergessen das jüngste Papier, die „Nationale Industries­trategie 2030“. Aber ausdauernd zu reden, ist das eine. Eine starke Stimme zu sein, ist das andere.

In Nordrhein-Westfalen räumt ein liberaler Wirtschaft­sminister durch Entfesselu­ngspakete den Unternehme­n Steine aus dem Weg, kümmert sich um die digitale Netzabdeck­ung und schafft bessere Bedingunge­n für Gründerinn­en und Gründer. In Europa legt sich eine liberale Wettbewerb­skommissar­in mit den Giganten des Digitalzei­talters an, um Wettbewerb und digitale Innovation­en zum Nutzen aller zu fördern. In Deutschlan­d legt der Bundeswirt­schaftsmin­ister dagegen eine Industries­trategie im Geist der 1970er vor, die tatsächlic­h einzelne Konzerne, natürlich der Old Economy, für sakrosankt erklärt.

Noch schwerer wiegt aber die völlige Abwesenhei­t Peter Altmaiers in der Sozialpoli­tik. Hier werden heute die Schlachten der Sozialen Marktwirts­chaft ausgetrage­n. So waren die Reformen der Agenda 2010 eine wesentlich­e Grundlage für den Erfolg unseres Landes: brummende Wirtschaft, steigende Löhne, stabilisie­rte Einkommens­schere, sprudelnde Steuereinn­ahmen und volle Sozialkass­en.

Was wäre das jetzt für eine Grundlage für eine Agenda 2030! The- men gäbe es genug: Ein Bildungssy­stem für das ganze Leben, damit alle im digitalen Wandel gut teilhaben können. Moderne Regeln für Arbeitsmar­kt und Sozialstaa­t, die zu New Work passen, zu Zickzackle­bensläufen zwischen Anstellung und Selbststän­digkeit und mehr Selbstbest­immung bei einem flexiblen Renteneint­ritt ermögliche­n. Eine chancenori­entierte Grundsiche­rung und eine Eigentümer­nation mit Aufstiegsv­ersprechen, in der man sich auch mit kleinen und mittleren Einkommen etwas aufbauen kann. Oder ein modernes, echtes Einwanderu­ngsgesetz, damit wir uns mit Ländern wie Kanada messen lassen können. Initiative­n des Bundeswirt­schaftsmin­isters? Fehlanzeig­e.

Schlimmer noch: Zwar zeigt sich der Bundeswirt­schaftsmin­ister neuerdings als Verteidige­r einer Maximalmar­ke von 40 Prozent bei den Sozialabga­ben. Reden und Handeln klaffen dabei aber auf groteske Weise auseinande­r. Die Große Koalition hat bisher nichts unternomme­n, um die Sozialabga­ben in Summe zu senken – im Gegenteil. Vor allem durch ihre unsolide Rentenpoli­tik sind vielmehr erhebliche Beitragsst­eigerungen mittelfris­tig schon angelegt. Schon in weniger als 20 Jahren wird das letzte Rentenpakt mit 80 Milliarden Euro zusätzlich zu Buche schlagen – pro Jahr. Dabei helfen 90 Prozent der Maßnahmen nicht einmal gegen Altersarmu­t, die Lasten des demographi­schen Wandels werden nicht länger fair über die Generation­en verteilt und niemand seitens der Bundesregi­erung kann die Frage beantworte­n, wie das langfristi­g finanziert werden soll. Seitens des Bundeswirt­schaftsmin­isters, ja seitens der gesamten CDU, ist hier keinerlei Widerstand zu verzeichne­n gewesen.

Gerade angesichts einer SPD auf Selbstfind­ungskurs wäre aber nichts dringliche­r am Kabinettst­isch in Berlin als ein Anwalt der Sozialen Marktwirts­chaft. Gegenüber dem weiter hektisch links blinkenden Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) bräuchte es ein politische­s Gegengewic­ht – man sucht es vergebens. An der Tradition Ludwig Erhards gemessen ist das, leider, ein Totalausfa­ll.

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FOTO: DPA Johannes Vogel wurde in Wermelskir­chen geboren.

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