Die schwersten Klavierstücke der Welt
Zwischen Horror und Poesie: Eine kolossale Box mit 22 CDs vereint lauter Etüden – eine virtuoser und raffinierter als die andere.
„Am schmerzlichsten sind jene Qualen, die man frei sich selbst erschuf.“
Dieser seherische Satz steht in der Tragödie „König Ödipus“von Sophokles, und wie es bei seherischen Sätzen üblich ist, gelten sie zu allen Zeiten – und also auch an jenem Tag, da der Komponist Carl Czerny (1791–1856) das Wort „Etüde“in die Klavierliteratur brachte und sie gleich mit dem Bannfluch des Negativen belegte: Es gibt Musik, die unter dem Siegel der Nützlichkeit hundsgemein, bösartig, die reine Schinderei ist. Soll sie überhaupt aufgeführt werden?
Kaum jemand spielt Etüden öffentlich, denn sie sollen einzig den unvollkommenen Pianisten in der Abgeschiedenheit seines Übezimmers drillen. Seine Defizite sollen sie wegtrainieren, und logischerweise sind die Partituren oft schwarz vor Noten. Und mit Etüden kann man sich zudem kolossal blamieren, denn wer einmal aus der Kurve fliegt, der kommt so schnell nicht wieder auf die richtige Bahn.
Czerny war nicht der erste Komponist, der Etüden schrieb, er war allerdings ihr Namengeber. Seine Klavierschulen trugen unfrohe Titel: „Schule der Geläufigkeit“und „Kunst der Fingerfertigkeit“. Schon sein Lehrer Muzio Clementi (1752–1832) hatte ähnliche Manöver komponiert, etwa den „Gradus ad Parnassum“. Bei Clementi waren die Anforderungen noch menschenfreundlich, trotzdem gaben sie einen Vorgeschmack auf das 19. Jahrhundert als die Epoche der grassierenden Virtuosität. Und auf die Etüde als Selbstgeißelung am Klavier.
Eine einschüchternde Box mit 22 CDs gibt es jetzt beim Label Brilliant Classics: alle relevanten Klavieretüden von Clementi bis Philip Glass, dem reproduktionsfreudigen Minimalisten aus den USA. In der tiefschwarzen Kassette, über die sich eine Klaviatur wie eine Peitsche schlängelt – treffende Bildmetapher! –, verbergen sich sämtliche wichtigen Etüden der Klavierliteratur. Und beim Hören empfindet man tiefstes Mitleid mit allen Pianisten, die diese Werke einstudiert haben.
Freilich ist die Plackerei nicht gänzlich kunstfern. Irgendwann emanzipiert sich die Etüde nämlich zum eigenständigen Charakterstück, in dem es zwar teilweise atemberaubende manuelle Pein gibt, aber auch reichen Ertrag. Man muss nur in die beiden Etüden-Bände von Chopin schauen: Da sind die technischen Ungeheuerlichkeiten das ozeanische Begleitrauschen, auf dessen Wellen spannende musikalische Geschichten erzählt werden – auf zeitlich allerdings begrenztem Raum. Etüden sind immer kurz, immer geballt in der Botschaft.
Chopins Etüden op. 10 sind bereits ein Kompendium von Ideen und Zeugnis eines visionären Geistes. Mit ihren weit ausgreifenden Akkordbrechungen stellt die erste Etüde C-Dur eine überdimensionale Variante von Bachs Präludium C-Dur aus dem „Wohltemperierten Klavier“dar. Dagegen ist bereits die Etüde Nr. 2 a-Moll mit ihrer chromatischen Übergriffigkeit gänzlich unkonventionell. In der Etüde Nr. 5 Ges-Dur wird die rechte Hand keine einzige weiße Taste berühren. Die „Revolutionsetüde“c-Moll hat es sogar zu dramatischer Berühmtheit gebracht.
Im Zyklus der Etüden op. 25 zeigt beispielsweise die Etüde Nr. 6 gisMoll mit ihren vibrierenden Terzen, dass Chopin der Assoziationskraft neue Bereiche öffnete: Hier denkt der Hörer an ein rauschendes, leicht beschwipstes Fest rasender Mole- külketten; nebenbei eilt die Musik durch äußerst fremde harmonische Räume und wirkt wie ein irrwitziger Innovationsreport. Wohin die Enthemmung des Vortragskünstlers führen kann, zeigte einmal der Russe Swjatoslaw Richter: Er schaffte jene Etüde cis-Moll in unfassbaren 1:35 Minuten. Beide überlebten.
Gelegentlich kann ein Konzertflügel ein Sarg sein, der Musik beerdigt – so wie es manchmal der recht langsamen Chopin-Etüde E-Dur op. 10 widerfährt, wenn sie von nicht ganz stilsicheren Pianisten zur Kitschnummer herabgewürdigt wird. Oder unter dem Titel „In mir klingt ein Lied“gesungen oder anderweitig verballhornt wird: etwa von den Tenören Rudolf Schock und Peter Schreier oder von Bandleader James Last.
Dann kamen all die anderen, vor allem der Franzose Charles Valentin Alkan (1813–1888), der eine a-Moll-Etüde komponierte, die ein absurdes Tempo und eine ebensolche Spielanweisung vorschreibt: „Wie der Wind“. Franz Liszts Etüden-Geisterbahnen tragen ähnliche Titel: „Irrlichter“, „Wilde Jagd“, „Schneetreiben“. Hier wird der Hexenmeister-Gedanke à la Paganini wiedergeboren.
Rachmaninow ist ein weiterer Meister der Etüde, ebenso fortschrittlich wie Chopin und Liszt, doch grüblerischer und mondäner. Türen zu neuen Räumen stieß der russische Exzentriker Alexander Skrjabin auf, wogegen Claude Debussy eine Prise Ironie streute: Seine Etüden beginnen mit einer banalen C-Dur-Schleife, die ein Gruß an Altmeister Carl Czerny ist. Danach werden Debussys Etüden immer raffinierter: als Anspruch, Kunst zu schaffen, auch wenn die Mittel absichtlich begrenzt sind („für die Quarten“).
Der letzte bedeutende Etüdenkomponist war György Ligeti. Dessen Klavierstücke sind atemberaubende Versuche über die Aufspaltung von Zeit. Oft lässt er Rhythmen und Metren, wie er sagte, „auf mehreren Etagen“ablaufen. Dann kriecht eine Passage durch den Keller, während eine andere im Parterre zu schreiten und wieder eine andere durchs Dachgeschoss zu rennen
scheint. In Wirklichkeit sind die Sechzehntelnoten aller „Etagen“gleich schnell, nur die Phasen, in denen Ligeti sie organisiert, sind ungleich lang. So wirkt beispielsweise die Etüde „Entrelacs“wie ein kalkulierter Taumel – aber sie ist nichts als reine Poesie, die Geburt einer Idee mit dem Kollateralschaden der menschlichen Überforderung. Das Stück erfordert, wie sollte es anders sein, einen kolossal virtuosen Pianisten mit zehn schier autonomen Fingern. Nicht anders ist Musikern bei den sehr jazzigen Etüden von Nikolai Kapustin zumute.
Das Faszinierende der Box ist: Die pianistischen Reiseleiter auf dieser Odyssee durch Zeit und Raum des erbaulichen Masochismus auf 88 Tasten sind weitgehend unbekannt. Von Michael Ponti, Erika Haase oder Peter Frankl hat man schon gehört, auch von der vehementen Sukyeon Kim (die in Düsseldorf bei Georg-Friedrich Schenck studierte). Trotzdem sind alle verdammt gut. Die legendäre frühe Aufnahme der Chopin-Etüden des Italieners Maurizio Pollini vermisst man nur ein paar Sekunden. Dann ist man wieder gefangen von der Beharrlichkeit, mit der Sisyphos seinen Felsbrocken eben doch erfolgreich vom Fleck bringen kann.
Und am Ende sind die schmerzlichen, sich selbst eingebrockten Qualen überstrahlt von pianistischer Euphorie: Bewältigt. Geschafft. Fehlerfrei. Und sogar Musik daraus gemacht.