Cambridge 5 – Zeit der Verräter
In ihren Memoiren behauptete sie, sie habe wie jeder geglaubt, dass er im Auswärtigen Amt beschäftigt sei, genau wie sein amüsanter Freund Guy Burgess. Als Burgess und Maclean 1951 plötzlich verschwanden, schien Flora daraus keine Schlüsse zu ziehen. Sie wusste sehr genau, wie eng befreundet Burgess und Philby gewesen waren, aber sie meldete sich nicht bei den Behörden.
Der Grund, warum sie 1962 dann doch zu Lord Rothschild ging, war, dass sie sich maßlos geärgert hatte. Nicht Philbys Lügen im Jahr 1955 hatten sie aufgeregt, als er in der berühmt gewordenen Pressekonferenz seine Unschuld beteuerte, und auch nicht die Behandlung ihrer Freundin Aileen, die er depressiv zurückgelassen hatte. Die amoralische Seite seines Lebens, der Landesverrat, all das störte Flora nicht. Was sie störte, war seine neue politische Einstellung. Flora ärgerte sich über die Zeitungsartikel, die er in Beirut schrieb. Philby hatte angefangen, Israel zu kritisieren. Damit war er - wie sie richtig erkannte - ganz aufseiten der neuen Nahostpolitik der Sowjetunion. Philbys Anti-Israel-Artikel wurden der Auslöser für alles, was sie von nun an unternahm, zumindest war das ihre Erklärung für ihren dreißig Jahre verspäteten Verrat.
Flora löste damit tatsächlich Philbys Zusammenbruch aus. Gewappnet mit ihrer Aussage und den Meldungen des Überläufers Golizyn, reiste Nicholas Elliott Anfang 1963 nach Beirut, um Philby zu einem Geständnis zu bringen.
Ausgerechnet Elliott, Philbys ältester Freund und Verteidiger, hatte diese Aufgabe übernommen. Niemand kannte Kim besser, und die Hoffnung des MI6 war wohl, damit einen Überraschungseffekt zu erzielen. Elliott war so schockiert gewesen von den Beweisen, die ihm Vorlagen, dass er Philby die etwas pathetischen Worte entgegenschleuderte: „Ich habe zu dir aufgeschaut, Kim. Mein Gott, wie ich dich jetzt hasse.
Ich hoffe, du hast genug Anstand, um zu verstehen, warum.“
Aber was genau war jetzt Elliotts Auftrag? Diese Frage stellte ihm viele Jahre später der ehemalige MI6-Mitarbeiter und Schriftsteller John le Carré: „Was hattet ihr mit einem Verräter wie Philby vor? Ihn vor Ort ermorden? Oder in ein Flugzeug nach London verfrachten und ihm dort den Prozess machen?“In so einem Fall hätte Philby eine hohe Gefängnisstrafe erhalten. Spione, wie der britische Marineattaché John Vassall, der für den KGB gearbeitet hatte, waren zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden, und George Blake hätte zweiundvierzig Jahre eingesessen, wenn ihm nicht die Flucht in die Sowjetunion gelungen wäre.
Elliott schien jedoch von der Frage überrascht gewesen zu sein. Er erwiderte le Carré, dass eine Ermordung von Philby nicht infrage gekommen sei, denn „er war doch einer von uns“.
Auch einen Gerichtsprozess gegen ihn sollte es laut Elliott nicht geben: „Niemand wollte Kim in London.“
Noch ein Spionageskandal, der von der Presse ausgeschlachtet wurde, wäre das Letzte gewesen, was die Regierung und der MI6 brauchen konnten.
Nein, Elliott drohte Philby in Beirut mit etwas anderem. Falls er nicht alles offenlege, wäre er Freiwild: Er würde nie mehr arbeiten können, nicht als Journalist, nicht als Geschäftsmann, nirgendwo. Er würde seinen britischen Pass verlieren und für immer ein Staatenloser sein, ein „Leprakranker“, wie Elliott sich ausdrückte. Er bot ihm Immunität im Gegenzug für ein Geständnis.
Philby schien zu schwanken. Er muss einen Moment lang gehofft haben, lebend aus der Situation herauszukommen.
Der Profi aller Profis, der Mann mit der eisernen Selbstkontrolle, verlor kurze Zeit die Kontrolle. Er gab nach. Zumindest vorübergehend. Elliott wollte sofort die Namen aller sowjetischen Spione wissen. Philby beschloss, Elliott nicht die ganze Wahrheit zu erzählen, sondern gab nur zu, von 1936 bis 1946 für die Sowjetunion gearbeitet zu haben.
Er habe dann seinen Irrtum eingesehen und sich nur noch einmal eingeschaltet, um 1951 Maclean zu warnen. Das wäre alles gewesen.
Es war ein Teilgeständnis, aber dass er es überhaupt abgelegt hatte, war verblüffend, und es gibt dafür verschiedene Erklärungen. Die einfachste ist, dass Philby einfach keine Chance mehr sah, Floras Vorwürfe zu leugnen. Niemand hielt Flora für eine Hysterikerin, die sich Geschichten ausdachte. Sie war eine glaubwürdige Belastungszeugin. Vielleicht wusste Philby sogar, dass es Victor Rothschild gewesen war, der Flora zu den Behörden geschickt hatte.
Er könnte daraus kombiniert haben, dass Rothschild ihn fallengelassen hatte. Dass der Mann, der ihn über Jahrzehnte unterstützt hatte, jetzt lieber seine eigene Haut retten wollte.
Ein weiterer Grund, warum Phil- by aufgab, könnte rein biologischer Natur gewesen sein. Er war kein junger Mann mehr, der physische und emotionale Belastungen so leicht verkraften konnte wie früher.
Seit dem Tod seines Vaters hatte Philby noch stärker getrunken als zuvor. Das ambivalente Verhältnis, das die beiden Philbys miteinander verbunden hatte, war nie geklärt worden. Jack Philby sah die Karriere seines Sohnes als Fehlschlag. Er war enttäuscht, dass Kim aus seinen vielen Talenten so wenig gemacht hatte. Kim hingegen musste den wichtigsten Teil seines Lebens vor seinem Vater geheim halten. Die Ironie daran war, dass der Vater nie erfuhr, wie „erfolgreich“sein Sohn tatsächlich gewesen war - Kim Philby, der Jahrhundertspion.
Kims dritte Frau Eleanor beschrieb in ihren Memoiren, wie er unmittelbar vor seinem Geständnis gegenüber Nicholas Elliott schwer betrunken im Badezimmer stürzte und blutüberströmt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Seine jüngeren Kinder waren gerade zu Besuch gekommen, und dieses Ereignis verängstigte sie völlig. Kim selbst schien furchtbar wütend auf sich zu sein. In den Wochen zuvor hatte er immer häufiger Fehler gemacht, die ihm früher nie unterlaufen wären. Bisher hatte er seine drei Welten - die private, die offiziellberufliche und die geheime - auch in betrunkenem Zustand voneinander trennen können. Doch es war zunehmend zu Überschneidungen gekommen.