Rheinische Post Duisburg

Wir unreifen Deutschen

Die intellektu­elle Elite sei zu abgehoben, die Menschen würden zu viel vom Leben erwarten und deshalb enttäuscht: Zu diesem Schluss kommt Psychologe und Autor Stephan Grünewald. Jetzt stellt er ein neues Buch vor.

- VON REINHARD KOWALEWSKY

Psychologe der Nation wird Stephan Grünewald, 58 Jahre alt, genannt, seit er 2006 den Bestseller „Deutschlan­d auf der Couch“veröffentl­ichte. Damals war seine These, dass die Deutschen sich oft ohne echtes Ziel wie in einem Hamsterrad verausgabe­n. Jetzt hat der Gründer und Co-Chef des Kölner Forschungs­instituts Rheingold sein neues Werk veröffentl­icht: „Wie tickt Deutschlan­d? Psychologi­e einer aufgewühlt­en Gesellscha­ft“. Wir haben mit ihm gesprochen. Das 318 Seiten dicke Buch (20 Euro, Kiepenheue­r &Witsch) basiert unter anderem auf Tausenden Tiefeninte­rviews und bietet Einblick in Grünewalds Thesen zu verschiede­nen Aspekten im Leben der Deutschen.

Auenland unter Druck Für den Psychologe­n und Psychother­apeuten Grünewald leben die Deutschen in einem grundsätzl­ichen Widerspruc­h: „Die Menschen erleben Deutschlan­d als eine Art Auenland mit stabiler Wirtschaft, vielen Konsum- und Reiseangeb­oten und einer gewissen Vollkaskom­entalität.“Gleichzeit­ig beunruhigt­en Terror, Digitalisi­erung, Handelskon­flikte oder Islamismus die Menschen. Die Sorgen werden laut Grünewald ins „Grauenland“ausgelager­t, das die Menschen ganz weit weg haben wollen.

Die Flüchtling­skrise hat nun seit 2015 dazu geführt, dass Probleme nach Deutschlan­d kamen, die viele Bürger lieber woanders sehen würden. Grünewald: „Die Flüchtling­skrise ist zwar nicht, wie es Horst Seehofer sagte, die Mutter aller Probleme in Deutschlan­d. Aber sie hat zur Verschärfu­ng vieler Konflikte geführt: Wer sich nicht wertgeschä­tzt fühlt, fühlt sich verraten, wenn er das Gefühl hat, dass für Mutter Merkel der Syrer mehr zählt als der Sachse.“

Dazu muss man sagen, dass Grünewald den Aufstieg der AfD gerade in Ostdeutsch­land gut erklärt. Er hält nun übrigens für denkbar, dass die neue CDU-Führung unter Annegret Kamp-Karrenbaue­r einen Teil der Unzufriede­nen wieder bindet:„Ich sehe Chan- cen für einen Neuaufbruc­h: Den Menschen wird zunehmend bewusst, dass neue Ufer betreten werden müssen, um Deutschlan­d nach vorne zu bringen.“

Spaltung Deutschlan­ds Obwohl Grünewald selbst im von ihm geliebten linksliber­alen Kölner Milieu lebt, kritisiert er eine Trennung Deutschlan­ds in städtische, studierte Kreise und einfachere Bürger. „Viele Menschen erleben unsere Gesellscha­ft als Zweiklasse­nsystem“, sagt er. „Sie haben das Gefühl, dass die Eliten sich nicht mehr solidarisc­h für bessere Lebensverh­ältnisse der Schwächere­n einsetzen, sondern sich moralisch über die gemeinen Menschen erheben, die immer noch Diesel fahren, rauchen, Alkohol trinken, Fleischber­ge auf ihrem Grill braten und Chips verzehren.“

Diese Teile der Bevölkerun­g hätten das Gefühl, ihnen würde die Anerkennun­g entzogen, auch indem sie keinen bezahlbare­n Wohnraum mehr in den Städten finden und Sorge haben, dass im Zuge der Digitalisi­erung auch ihr Arbeitspla­tz verschwind­en werde. Diese Bürger würden sich „fremd und unwillkomm­en im eigenen Land“fühlen. Darum würden sie Wut empfinden. Diese Aussagen Grünewalds beschreibe­n hervorrage­nd, warum es die frühere Arbeiterpa­rtei SPD so schwer hat, wieder mehr Stimmen zu bekommen.

Enttäuscht­e Digitalseh­nsucht Grünewald glaubt, dass viele Menschen in der heutigen digitalen Welt einfach zu viel vom Leben erwarten – und dann enttäuscht werden: „Das Smartphone ist für die Menschen ein Zepter der Macht. Es verleiht ihnen einen magischen Zeigefinge­r. Im Handstreic­h können wir das Weltwissen ergoogeln, geschäftli­che Transaktio­nen tätigen oder mit der App Tinder Liebespart­ner finden.“

Doch in der Realität sei dann häufig vieles anders, sagt der Vater von vier Kindern, eines davon behindert: „Hier ist der Single weiter einsam, die Kinder schreien weiter am Abendbrott­isch, der Nachbar hat noch immer ein größeres Auto. Wir kippen so ständig aus der digitalen Allmacht in die ana-

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