Wer nicht wählt, gefährdet Europa
Allen Unkenrufen zum Trotz macht es sehr wohl einen Unterschied, wem wir unsere Stimme geben. Nur wenn wir wählen gehen, sorgen wir dafür, dass Europa weiterhin erfolgreich bleibt.
VON JEAN-CLAUDE JUNCKER
Nächsten Sonntag sind Europawahlen – nirgendwo sonst auf der Welt können so viele Menschen unterschiedlicher Länder in demokratischen Wahlen über ihre Zukunft abstimmen. 427 Millionen Europäerinnen und Europäer in 28 Ländern werden die Abgeordneten und damit ihre Vertreterinnen und Vertreter im Europäischen Parlament wählen. Damit werden sie auch bestimmen, wo es in der europäischen Politik in den nächsten fünf Jahren hingehen soll.
Es stimmt, dass die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen lange Zeit niedrig war. Oft hört man Rechtfertigungen, dass eine einzelne Stimme doch ohnehin keinen Unterschied mache. Aber stellen Sie sich vor, jeder dächte das. Stellen Sie sich vor, alle anderen würden die gleiche Partei wählen wie Sie – jeder von uns muss die Verantwortung dafür übernehmen, welche Folgen das für unseren Kontinent hätte.
Denn jede Stimme macht sehr wohl einen Unterschied. Es macht einen Unterschied für unsere Erde, ob wir jemandem unsere Stimme geben, der den Klimawandel bekämpft. Es macht einen Unterschied für unsere Arbeitsplätze, ob wir Abgeordneten unsere Stimme geben, die sich im digitalen Zeitalter für Arbeitnehmerrechte einsetzen. Es macht einen Unterschied für unsere Sicherheit, ob wir jemandem unsere Stimme geben, der sich für europäische Werte stark macht, während alte und neue Mächte international Alleingänge vollziehen und eigenen Spielregeln folgen. Europa ist für Sie da – nicht umgekehrt. Damit das so bleibt, müssen Sie wählen gehen.
Auch in Deutschland gibt es Kandidaten, die stolz verkünden, dass Europa die nationale Identität untergräbt. Doch das stimmt nicht. Europa kann man gar nicht gegen die Nationen bauen. Wir alle sind Deutsche, Rheinländer oder Luxemburger, und das wollen
wir auch bleiben. Zugleich erreichen die europäischen Nationen gemeinsam mehr als jeder für sich allein – ob es darum geht, Technologieriesen die Stirn zu bieten, unsere Außengrenzen zu schützen, Handelsabkommen abzuschließen oder die Weltmeere von Plastikmüll zu befreien.
Deshalb müssen wir Populisten mit ihren eigenen Schwächen bekämpfen: Mit Taten, nicht mit Worten. Mit Hoffnung, nicht mit Angst. Mit Einheit, statt mit Spaltung. Und mit einem klaren Plan für eine bessere Zukunft, anstatt vergangenen Zeiten nachzutrauern, die es so nie gegeben hat.
Als ich zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt wurde, hatte ich mein Ziel klar vor Augen: Ich wollte, dass wir uns auf die Dinge konzentrieren, auf die es den Europäerinnen und Europäern am meisten ankommt. In Europa haben heute 240 Millionen Menschen Arbeit – mehr als je zuvor. Die Löhne sind um 5,7 Prozent gestiegen. Wir verfügen inzwischen über eine eigene Europäische Grenzund Küstenwache, die beim Schutz unserer Außengrenzen helfen wird – auch wenn hier noch Arbeit bleibt, um die Anzahl der europäischen Grenzbeamten auf 10.000 zu erhöhen. Roaming ist jetzt überall in der Union zu Inlandspreisen möglich. Dank der weltweit größten Handelsabkommen exportieren unsere Unternehmen nun nach Japan und Kanada, ohne dafür Zölle zu zahlen.
Doch Europa ist mehr als nur Zahlen und Statistiken. Europa – das sind gemeinsame Werte, das sind Begegnungen. Europa sind die 120.000 jungen Menschen, die als Mitglied des Europäischen Soldaritätskorps freiwillig beim Wiederaufbau in italienischen Erdbebengebieten mit angepackt haben. Oder die polnischen Feuerwehrleute, die bei ihrer Ankunft in Schweden wie Helden empfangen wurden, weil sie beim Löschen der Waldbrände geholfen haben. Oder die 30.000 jungen Menschen, die dank des DiscoverEU-Programms mit Europa kann man gar nicht gegen die Nationen bauen. Wir alle sind Deutsche, Rheinländer
oder Luxemburger dem Zug quer durch Europa reisen, und die 10 Millionen jungen Europäer, die bei ihrem Erasmus-Studium neue Kulturen und Sprachen kennenlernen und Freunde fürs Leben finden.
Die letzten Jahre waren nicht einfach, aber sie haben uns Europäer auch zusammengeschweißt. Wir haben dafür gesorgt, dass die Griechen allen Widrigkeiten und Vorhersagen zum Trotz weiterhin den Euro im Portemonnaie haben. Wir konnten die Zahl der illegalen Einwanderer an unseren Küsten um 90 Prozent senken, auch wenn einige weiterhin behaupten, die Migrationskrise sei außer Kontrolle geraten. Und wir standen fest zueinander, als eines unserer Mitgliedsländer, das Vereinigte Königreich, sich zum Austritt aus unserer Union entschlossen hat.
Wir können immer noch mehr tun und es noch besser machen. Aber all diese Erfahrungen haben unsere Union neu belebt. Wir wurden daran erinnert, dass die Europäische Union nie selbstverständlich sein darf. Heute stehen die Menschen so positiv zur EU wie seit 27 Jahren nicht mehr. Wenn es morgen in Deutschland ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft gäbe, würden 80 Prozent für den Verbleib stimmen.
Genau deshalb dürfen wir nicht aufhören, an Europa zu arbeiten. Vergessen wir nicht, dass vor 30 Jahren noch ein Eiserner Vorhang Europa geteilt hat. Wie beim Fall der Berliner Mauer haben die Menschen in Europa schon immer für ihre Rechte, ihre Freiheiten, ihre Werte und ihre Souveränität gekämpft. Das soll heute nicht anders sein.
Die Europawahl am 26. Mai ist Ihre Chance, für Ihre Überzeugungen einzustehen. Wenn wir am Sonntag in der Wahlkabine stehen, hat jeder von uns den gleichen Einfluss, die gleiche Macht über unsere gemeinsame Zukunft. An diesem Tag sind wir alle Europa. Wir alle haben unser Schicksal in der Hand.
Info Jean-Claude Juncker ist seit 2014 EU-Kommissionspräsident.