Rheinische Post Duisburg

Barocke Pracht und Herrlichke­it

Wir lieben Barockmusi­k, weil sie Glanz in den Alltag bringt, feine Melodien – und Ordnung. Trotzdem bietet sie oft Überraschu­ngen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Ist es nicht so, dass wir bei Mozart zuweilen glücklich verloren gehen, wenn er uns in den Finali seiner Opern schwindlig zaubert? Und drohen wir in Haydns Streichqua­rtetten nicht den Überblick zu verlieren, wenn die vier Stimmen miteinande­r um die Wette kommunizie­ren? Und stürzt uns Beethovens Musik nicht in Abgründe, um uns dann wieder himmelwärt­s zu katapultie­ren, was beim Hörer eine erhöhte Bewältigun­gskompeten­z erfordert?

In der Barockmusi­k, so glauben wir, gibt es solche Irritation­en nicht. Barockmusi­k ist Befestigun­g. Vergewisse­rung. Barock ist, wenn die Eurovision­s-Fanfare von Marc-Antoine

In Händels „Hallelujah“scheinen die Putten aller Barockkirc­hen

mitzublase­n

Charpentie­r erklingt und wir jeden Ton mitsingen können. Barock bedeutet: Einklang von Musik und Hörer auf Augen- und Ohrenhöhe. Alles bleibt bei sich und treulich geordnet, denn es ist das Zeitalter des Generalbas­ses. Das heißt, der Sockel des Klangs bildet zugleich sein harmonisch­es Gerüst, auf ihm ruht das Geschehen, er hält alles zusammen – und zwar fortlaufen­d. Daher kommt das Wort vom „Basso continuo“, den Orgel, Cembalo, Cello, Kontrabass, Fagott gestalten – lauter Tieftöner im Dienste des Großen, Ganzen und Höheren.

Johann Sebastian Bach hat die Barockmusi­k vollendet, bei ihm vertieft sich alles bis ins Letzte, aber man sollte die Rechnung nicht ohne Händel machen. Kein Bach-Chorsatz hat solche Berühmthei­t erlangt wie das „Hallelujah“aus dem „Messiah“. Da scheinen, wenn die Trompeten über den Chor hinwegstra­hlen, sämtliche Putten aus sämtlichen Barockkirc­hen mitzublase­n. Dieses Stück ist ein Hit, über das sich nicht grundlos Quincy Jones für seine genialisch­e Soul-Adaption „Handel’s Messiah – A Soulful Celebratio­n“hermachte.

Jetzt gibt es eine neue „Messiah“-Aufnahme, die den Hörer sprachlos macht, sie kommt aus Prag und ist dem Ensemble 1704 unter Vacláv Luks zu danken. Das hat bereits eine hinreißend­e Neuaufnahm­e von Bachs h-Moll-Messe vorgelegt, und schon damals begriff man das Prager Prinzip: Es ist, um es salopp zu sagen, dem Schinken näher als dem Knäckebrot. Es gab ja mal eine Zeit, da lehrten uns die Fexe der historisch­en Aufführung­spraxis, dass am besten so wenig Leute wie möglich auf einer Bühne stehen und die Instrument­e wie gedroschen Stroh klingen sollten. Die Prager machen Musik, und zwar handfest, lebensnah und trotzdem virtuos. Und zwar in historisch­er Manier. Schöner kann man den „Messiah“nicht bekommen.

Jedenfalls hat der Geist des musikalisc­hen Frühbarock von 1600 an alle erfasst, die Italiener zuerst (Monteverdi) , dann die Franzosen (Lully, Couperin, Rameau). Die Deutschen waren irgendwann auf allen Feldern dabei, etwa mit dem norddeutsc­hen Orgelbaroc­k. Tolle Ausbeute insgesamt: Es gab jetzt Opern, es gab Kantaten, es gab Arien, es gab Passionen. Und die Instrument­e begannen miteinande­r zu konzertier­en, gern im Großformat (wie beim Concerto grosso von Corelli), aber auch in der kleinen Sonate. Barocke Pracht und Herrlichke­it kann auch im Duett erzeugt werden.

Bei Händel ist man immer gut aufgehoben. Nie stand er in Bachs Schatten, auf ihn fiel genug Licht; England bewunderte ihn hingebungs­voll. Bach war allerdings ein paar Hausnummer­n genialer. Bach konnte alles, das Riesige und das Filigrane, das Erhitzte und das Entspannte – und es gab kaum ein Instrument, das er nicht beherrscht­e. Aber die Geige und die Tasteninst­rumente hat er selbst gespielt, und wohin das führte, erlebt man wunderbar bei den sechs Sonaten für Violine und Cembalo. Da ist alles vereint: das Geordnete und Vorhersehb­are, das wir am Barock so lieben, die Lebenslust, aber auch die Sphäre des Unergründl­ichen. Jetzt gibt es eine schöne Neuaufnahm­e von vier Sonaten mit dem Geiger Renaud Capuçon und dem Pianisten David Fray, die dem Originalkl­ang-Fetischism­us eine Frage entgegenwa­rfen: Hätte Bach auch den Steinway geliebt? Das klingende Ergebnis: Ja, hätte er – und wie!

Bach auf dem Cembalo klingt, als sitze man in seinem Komponierz­immer und schaue ihm zu, wie er das Werk zum ersten Mal spielt – so wie jetzt in der umwerfende­n Aufnahme der Englischen Suiten durch Masaaki Suzuki. Dessen Cembalo strahlt die Frische eines Kühlschran­ks ab, den man im Hochsommer nach Kaltgeträn­ken absucht.

Hörpsychol­ogisch ist neben dem Klang das Tempo ein wichtiger Faktor. Hat ein Satz es einmal gefunden,

bleibt es konstant. Auch das stiftet Ordnung. Bach nutzt diese angebliche Restriktio­n allerdings, um innerhalb des Planquadra­ts für Freiheiten zu sorgen. Das Paradebeis­piel sind die „Goldberg-Variatione­n“. Von Satz zu Satz stellt er eine jeweils neue atmosphäri­sche Situation her. Das Thema ist gesanglich, die erste Variation ein Gleichgewi­chts-Akt, die zweite ein Zirkelspie­l. Das klingt auf Klavier oder Cembalo ebenso gut wie auf anderen Instrument­en. Das Streichtri­o um den Geiger Frank Peter Zimmermann hat nun das Werk jetzt den Tasten entfremdet und in ein neues Klanggewan­d gehüllt. Das ist ebenfalls nicht pastos, nicht wonnetrunk­en. Vielmehr hilft es uns, ins Innere der Musik einzudring­en.

Das Phänomenal­e dieser Musik ist, dass Bach gleichzeit­ig in Linien und in Säulen denkt. Die Linien sind die Stimmen, die Säulen sind die Akkorde. Die Stimmen behandelt Bach demokratis­ch, er will jede Stimme im horizontal­en Geflecht teilhaben lassen. Anderseits ergeben diese gleichzeit­ig erklingend­en Stimmen in der Vertikalen des 90-Grad-Winkels immer neue akkordisch­e Summen.

Die „Goldberg-Variatione­n“erinnern uns an französisc­he Barockgärt­en, deren strenge Anlage Bach, der geometrisc­he Freidenker, mit anarchisch­en Blumenraba­tten revolution­iert hat.

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FOTO: VISUM Einklang von Raum und Musik: Barockkonz­ert in der Wieskirche in Bayern.

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