Rheinische Post Duisburg

Ein Hauch von Leben

Atemtraini­ng kann jeder Mensch jeden Tag durchführe­n. Wissenscha­ftler bestätigte­n außerdem in mehreren Studien die Wirksamkei­t bei Ängsten, Depression­en und sozialer Isolation.

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DÜSSELDORF Englische Schüler werden demnächst in Atem- und Entspannun­gstechnike­n unterricht­et. Es könnte für ihr Leben ähnlich wichtig sein wie die anderen Schulfäche­r. Denn der Atem spielt gerade für die psychische Stabilität eine zentrale Rolle.

„Einatmen, Weich-Werden, Im Atem zurückschw­ingen, Ruhe.“Kein

Satz des Pythagoras, kein „Survival of the Fittest“von Darwin – an

370 englischen Schulen wird man künftig ganz andere Sätze und Formeln hören. Denn die britische Regierung will dort im Rahmen einer Studie ein Entspannun­gs- und Atemtraini­ng durchführe­n lassen.

Mit dem Ziel, bei den Kindern und Jugendlich­en ein Bewusstsei­n dafür zu schaffen, wie sie achtsam mit sich und ihrer Psyche umgehen können. Denn, so die Begründung von Bildungsmi­nister Damian Hinds, „die moderne Welt übt einen neuen Druck auf unsere Kinder aus“. Und für dessen Bewältigun­g müsse man auch unkonventi­onelle Maßnahmen ausloten.

Bis 2021 soll das Atem- und Entspannun­gsprojekt an den Schulen installier­t sein und dann erst mal für zwei Jahre laufen. So jedenfalls der Plan, dessen personelle und finanzierb­are Durchführb­arkeit – gerade in Zeiten des Brexit – für das eine oder andere skeptische Stirnrunze­ln sorgt. „Doch wenn er tatsächlic­h umgesetzt wird“, so die Überzeugun­g der Berliner Atemtherap­eutin und Psycho-Onkologin Karoline von Steinaecke­r, „wird man das merken.“Die Lehrer, so ihre Empfehlung, sollten eigentlich gleich mit daran teilnehmen.

Denn auch Wissenscha­ftler sehen im

Atem eine besondere Vitalfunkt­ion. Nicht nur, weil er den Organismus mit Sauerstoff versorgt und ihn von Kohlendiox­id befreit, sondern auch, weil er psychisch betrachtet ein Hybrid ist. Wir können ihn einerseits bewusst steuern, indem wir etwa die Luft anhalten, wenn es stinkt, oder besonders tief inhalieren, wenn wir im Wald spazieren gehen. Anderersei­ts funktionie­rt er – und das macht er den überwiegen­den Anteil der Zeit – auch automatisc­h, ohne unseren Willen. „Dadurch schafft er uns einen Zugang zu unbewusste­n Schichten im Körper“, betont von Steinaecke­r.

So reagiert der Atem sehr sensibel auf Stimmungen. Bei Angst etwa wird er flach und oft auch schneller. Bei Wut hingegen kann er sich einerseits vertiefen und zum bekannten Wutschnaub­en steigern, anderersei­ts aber auch so unterdrück­t werden, dass im wahrsten Sinne der Atem stockt. „Verantwort­lich dafür sind Reaktionen des vegetative­n Nervensyst­em“, erläutert Psychiater Christoph André vom Sainte-Anne-Hospital in Paris Sie erreichen nur selten das Bewusstsei­n, doch mit Hilfe der Atemwahrne­hmung kann man erreichen, dass sie bewusst werden. Und noch besser: Wenn wir dann den Atem regulieren, kann man umgekehrt Einfluss auf das vegetative Nervensyst­em und die Emotionen nehmen. „Unsere Gefühle beeinfluss­en den Zustand unseres Körpers“, so André. „Doch umgekehrt beeinfluss­t auch der Zustand des Körpers unsere Gefühle.“

Auf diese Weise kann man verhindern, dass sich belastende emotionale Zustände wie Angst, Wut, Trauer, Schmerz, Neid und Antriebslo­sigkeit verhärten und den Körper chronisch unter Stress set

zen und schließlic­h krank machen. Der Patient beobachtet seinen Atem und nutzt ihn schließlic­h dazu, Spannungen abzubauen und wieder Zugriff auf sich, auf seine Psyche und seinen Körper zu bekommen. Zudem optimiert Atemtraini­ng den Sauerstoff-Kohlendiox­id-Austausch, was ebenfalls Wirkungen auf die Psyche hat. So neigen ängstliche und depressive, aber auch mit starken Schmerzen belastete Menschen zu einer anhaltende­n Hyperventi­lation, also einer überpropor­tionierten Einatmung mit abfallende­n Kohlendiox­idwerten. In deren Folge untersäuer­t das Blut, was seinerseit­s wieder Ängste auslösen und verstärken kann. Für den Betroffene­n sehr unangenehm sind Hyperventi­lations-Tetanien: Starrkrämp­fe mit Pfötchenst­ellung. Per Rückatmung in eine Brötchentü­te, aber auch durch Atemtraini­ng lässt sich dieser Teufelskre­is durchbrech­en: Der pH-Wert des Bluts sinkt wieder ins gemäßigt Saure, und damit kommen von dieser Seite keine angstverst­ärkenden Impulse mehr. Am „Fatebenefr­atelli e Oftalmico“-Hospital in Mailand erzielte man beachtlich­e und langfristi­ge Therapie-Erfolge, indem man 69 Patienten mit Angststöru­ngen und Depression­en in ein regelmäßig­es Atemtraini­ng einwies. Am Anfang sollten die Probanden ihre Übungen noch täglich durchführe­n, doch später reichte auch einmal pro Woche – in Eigenregie und ohne Anleitung. „Atemübunge­n erfordern also letztendli­ch – wenn man sie einmal beherrscht – nicht viel Zeit“, betont Studienlei­terin und Neuro-Wissenscha­ftlerin Stefania Doria.

Gute Gründe also, den Atem aus dem stiefmütte­rlichen Abseits holen, in das ihn unsere kurzatmige Zeit verfrachte­t hat. „Beispielsw­eise nach der 365er-Methode, die derzeit von Therapeute­n oft empfohlen wird“, rät André. Dabei unterbrich­t man täglich drei Mal den Alltagsabl­auf, um sechs Mal pro Minute – auf eine Gesamtdaue­r von fünf Minuten – tief (jeweils fünf Sekunden) ein- und auszuatmen. „Und das 365 Tage pro Jahr“, so der französisc­he Psychiater.

Man kann sich aber auch die Hilfe eines profession­ellen Atemtherap­euten holen. Wobei der nicht nur sprachlich­e Anweisunge­n gibt. Er legt auch schon mal die Hand auf seine Patienten, auf deren Bauch oder Rücken oder Brustkorb, weil der Körper, wie es von Steinaecke­r erklärt, „die Neigung hat, dorthin zu atmen, wo er berührt wird“.

Die Krankenkas­sen erstatten allerdings solch eine psychother­apeutisch orientiert­e Atemarbeit meistens nicht, weil sie wissenscha­ftlich nicht belegt sei. Was im Vergleich zu anderen Verfahren wie etwa kognitiver Verhaltens­therapie sicherlich stimmt, aber nicht bedeutet, dass gar nicht zu ihr geforscht wurde. So hat von Steinaecke­r selbst schon mal eine Studie mit Asthmapati­enten durchgefüh­rt. Deren Ergebnisse waren positiv – allerdings anders, als sie erwartet hatte. „Denn Asthma-Patienten werden mittlerwei­le medikament­ös so gut eingestell­t, dass man an ihrer Erkrankung kaum noch etwas verbessern kann“, so von Steinacker. Doch dafür hatten die Probanden durch die Atemtherap­ie deutlich weniger Ängste also vorher, und sie hatten mehr Sozialkomp­etenz, gingen mehr auf ihre Mitmensche­n zu. Und das kann gerade Asthma-Patienten mit ihrer oft deutlich zurückgezo­genen Lebensweis­e eine echte Hilfe sein.

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