Als der Wagen nicht kam
Den Entwurf dieses Führererlasses erhielt ich beim Oberkommando der Wehrmacht als eine der ersten Sachen auf meinen Schreibtisch, da Chef OKW zugleich Kriegsminister war und deshalb zu den Entwürfen von Gesetzen und gesetzesartigen Führererlassen seine Zustimmung eingeholt werden musste. Ich habe gegen den vom Innenminister eingebrachten Entwurf Einspruch erhoben mit der Begründung, es werde unter den bei der Wehrmacht befindlichen Juristen und auch sonst ganz allgemein unter den Soldaten Unruhe über die Aufhebung der richterlichen Unabhängigkeit entstehen, was für den Wehrwillen der Truppe schädlich sei. Ich glaubte, dass wenigstens der Justizminister, dem doch allgemein die Pflicht oblag, die richterliche Unabhängigkeit zu sichern, Einspruch erheben oder sich wenigstens das Argument der Wehrmacht zu eigen machen würde.
Der als Minister amtierende Herr Schlegelberger dachte aber nicht daran, sich missliebig zu machen. So entstand die groteske Situation, dass einzig und allein die Wehrmacht für die richterliche Unabhängigkeit kämpfte. Im Innenministerium merkte man aber allmählich, von wo der Kampfwille kam. Man setzte den Vertreter der Parteikanzlei bei Keitel in Bewegung und dieser machte ihm klar, wie inopportun der Einspruch sei, der dann zurückgezogen werden musste. Immerhin hatte ich die Veröffentlichung des Erlasses ungefähr ein Jahr lang verzögert.
Der eigentliche totale Krieg begann erst im Frühjahr 1940 mit den deutschen Angriffen im Westen, während es bis dahin noch so
aussah, als ob Hitler auf ein Einlenken der Alliierten unter Sicherung seiner Erfolge in Polen warte. Erst für diese westlichen Angriffe wurde das sogenannte Führerhauptquartier geschaffen, eine feldmäßige, vom Sitz Berlin unabhängige Einrichtung. Das Führerhauptquartier bestand aus dem Oberkommando der Wehrmacht – Wehrmachtführungsstab, für den in Berlin eine Standortstaffel eingerichtet wurde. Hierfür war eine gewisse Personalverstärkung erforderlich geworden und in deren Folge geschah meine Einziehung für diese Standortstaffel, bei der ich dann von April 1940 ab fast viereinhalb Jahre tätig gewesen bin, so dass ich es in meinem Leben insgesamt auf eine militärische Dienstzeit von über zehn Jahren gebracht habe.
Dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) oblagen die Geschäfte des früheren Kriegsministeriums und zugleich die militärische Führung. Das OKW war in verschiedene Abteilungen gegliedert für Allgemeines, Verwaltung, Rechtswesen, Ausland-Abwehr (Canaris), Kriegsgefangene, Wehrmachtpropaganda usw. Die militärische Führung bearbeitete der Wehrmachtführungsstab. Chef OKW war General Keitel, Chef des Wehrmachtführungsstabes General Jodl und dessen Vertreter und eigentliche Leiter des Stabes General Warlimont.
Alle Abteilungen des OKW blieben den Krieg über in Berlin bis auf den Wehrmachtführungsstab. Dieser reiste in einem Schlafwagenzug in die jeweiligen Feldquartiere, zunächst für die Westfront in die Eifel, dann in das hauptsächlich und die meiste Zeit hindurch benutzte Quartier bei Rastenburg in Ostpreußen, später in die Ukraine nach Winitza und zeitweise auch für die Südoperationen nach Berchtesgaden.
Der Deckname des Quartiers hieß „Wolfsschanze“, eine instinktiv richtig gewählte Bezeichnung. Hitler hatte für sich und seine äußere Umgebung ebenfalls einen Schlafwagenzug, mit dem er in die genannten Quartiere fuhr, in denen bequeme Unterkünfte mit Einsatz erheblicher Mittel für die Unterbringung Hitlers und des Wehrmachtführungsstabes geschaffen worden waren. Wegen dieser Abwesenheit von Berlin brauchte der Wehrmachtführungsstab dort eine Standortstaffel zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit den anderen dort verbliebenen Ämtern des OKW, mit den Berliner Ministerien, dem Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Heimatheeres, sowie den entsprechenden Heimatorganen der Marine und Luftwaffe.
Im Felde oblag die militärische Führung der drei Wehrmachtteile dem Oberkommando des Heeres, dem Oberkommando der Luftwaffe und der Seekriegsleitung, Chef OKW hatte den drei Wehrmachtteilen gegenüber weder im Felde noch in der Heimat Befehlsgewalt. Befehlen konnte nur Hitler. Chef OKW war nur eine koordinierende Klammer für die drei Wehrmachtteile, er war Hitlers Generalstabschef. Wenn das Koordinieren nicht ausreichte, musste ein Befehl Hitlers erwirkt werden. Die drei Wehrmachtteile führten mit eigenen Generalstäben den Krieg und erst später gab es Wehrmachtkriegsschauplätze, auf denen Hitler vermittels des Wehrmachtführungsstabes unmittelbar führte. Diese komplizierte Spitzengliederung konnte nur funktionieren, solange die Dinge glatt liefen; kamen Rückschläge und Schwierigkeiten, so musste sie mangels einheitlicher Willensbildung versagen. Die Generalstabsoffiziere wussten das und versuchten immer wieder, straffere Befehlsverhältnisse zu schaffen. Hitler wollte das aber nicht und erließ dann sogar einen geheimen Befehl an die Offiziere des Wehrmachtführungsstabes mit dem Verbot, untereinander über Spitzengliederung überhaupt zu sprechen. Hätte er schon den Lügendetektor gekannt, so hätte er auch das Denken darüber verboten.
Für seine diktatorische Willkür brauchte Hitler nämlich diese schlaffen und komplizierten Befehlsverhältnisse, weil er so einen gegen den andern ausspielen konnte. Hätte die Kommandogewalt einheitlich in der Hand eines Generals gelegen, so hätte das eine Gefahr für seine Diktatur bedeutet. Der 20. Juli 1944 wäre dann wohl viel früher ein Schicksalstag geworden. Zudem wäre die personelle Auswahl für einen militärischen Oberkommandierenden mehr als schwierig gewesen. Göring würde sich gutwillig keinem andern unterstellt haben, und selbst wenn das Heer murrend Göring hingenommen hätte, so wäre bei ihm wieder eine Machthäufung entstanden, die Hitler als gefährlich erkannte. Er hatte den wohl allen Diktatoren notwendig innewohnenden sechsten Sinn, gegen die Macht aufsteigende Gefahren misstrauisch zu erahnen.