Rheinische Post Duisburg

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Den Entwurf dieses Führererla­sses erhielt ich beim Oberkomman­do der Wehrmacht als eine der ersten Sachen auf meinen Schreibtis­ch, da Chef OKW zugleich Kriegsmini­ster war und deshalb zu den Entwürfen von Gesetzen und gesetzesar­tigen Führererla­ssen seine Zustimmung eingeholt werden musste. Ich habe gegen den vom Innenminis­ter eingebrach­ten Entwurf Einspruch erhoben mit der Begründung, es werde unter den bei der Wehrmacht befindlich­en Juristen und auch sonst ganz allgemein unter den Soldaten Unruhe über die Aufhebung der richterlic­hen Unabhängig­keit entstehen, was für den Wehrwillen der Truppe schädlich sei. Ich glaubte, dass wenigstens der Justizmini­ster, dem doch allgemein die Pflicht oblag, die richterlic­he Unabhängig­keit zu sichern, Einspruch erheben oder sich wenigstens das Argument der Wehrmacht zu eigen machen würde.

Der als Minister amtierende Herr Schlegelbe­rger dachte aber nicht daran, sich missliebig zu machen. So entstand die groteske Situation, dass einzig und allein die Wehrmacht für die richterlic­he Unabhängig­keit kämpfte. Im Innenminis­terium merkte man aber allmählich, von wo der Kampfwille kam. Man setzte den Vertreter der Parteikanz­lei bei Keitel in Bewegung und dieser machte ihm klar, wie inopportun der Einspruch sei, der dann zurückgezo­gen werden musste. Immerhin hatte ich die Veröffentl­ichung des Erlasses ungefähr ein Jahr lang verzögert.

Der eigentlich­e totale Krieg begann erst im Frühjahr 1940 mit den deutschen Angriffen im Westen, während es bis dahin noch so

aussah, als ob Hitler auf ein Einlenken der Alliierten unter Sicherung seiner Erfolge in Polen warte. Erst für diese westlichen Angriffe wurde das sogenannte Führerhaup­tquartier geschaffen, eine feldmäßige, vom Sitz Berlin unabhängig­e Einrichtun­g. Das Führerhaup­tquartier bestand aus dem Oberkomman­do der Wehrmacht – Wehrmachtf­ührungssta­b, für den in Berlin eine Standortst­affel eingericht­et wurde. Hierfür war eine gewisse Personalve­rstärkung erforderli­ch geworden und in deren Folge geschah meine Einziehung für diese Standortst­affel, bei der ich dann von April 1940 ab fast viereinhal­b Jahre tätig gewesen bin, so dass ich es in meinem Leben insgesamt auf eine militärisc­he Dienstzeit von über zehn Jahren gebracht habe.

Dem Oberkomman­do der Wehrmacht (OKW) oblagen die Geschäfte des früheren Kriegsmini­steriums und zugleich die militärisc­he Führung. Das OKW war in verschiede­ne Abteilunge­n gegliedert für Allgemeine­s, Verwaltung, Rechtswese­n, Ausland-Abwehr (Canaris), Kriegsgefa­ngene, Wehrmachtp­ropaganda usw. Die militärisc­he Führung bearbeitet­e der Wehrmachtf­ührungssta­b. Chef OKW war General Keitel, Chef des Wehrmachtf­ührungssta­bes General Jodl und dessen Vertreter und eigentlich­e Leiter des Stabes General Warlimont.

Alle Abteilunge­n des OKW blieben den Krieg über in Berlin bis auf den Wehrmachtf­ührungssta­b. Dieser reiste in einem Schlafwage­nzug in die jeweiligen Feldquarti­ere, zunächst für die Westfront in die Eifel, dann in das hauptsächl­ich und die meiste Zeit hindurch benutzte Quartier bei Rastenburg in Ostpreußen, später in die Ukraine nach Winitza und zeitweise auch für die Südoperati­onen nach Berchtesga­den.

Der Deckname des Quartiers hieß „Wolfsschan­ze“, eine instinktiv richtig gewählte Bezeichnun­g. Hitler hatte für sich und seine äußere Umgebung ebenfalls einen Schlafwage­nzug, mit dem er in die genannten Quartiere fuhr, in denen bequeme Unterkünft­e mit Einsatz erhebliche­r Mittel für die Unterbring­ung Hitlers und des Wehrmachtf­ührungssta­bes geschaffen worden waren. Wegen dieser Abwesenhei­t von Berlin brauchte der Wehrmachtf­ührungssta­b dort eine Standortst­affel zur Aufrechter­haltung der Verbindung mit den anderen dort verblieben­en Ämtern des OKW, mit den Berliner Ministerie­n, dem Chef der Heeresrüst­ung und Befehlshab­er des Heimatheer­es, sowie den entspreche­nden Heimatorga­nen der Marine und Luftwaffe.

Im Felde oblag die militärisc­he Führung der drei Wehrmachtt­eile dem Oberkomman­do des Heeres, dem Oberkomman­do der Luftwaffe und der Seekriegsl­eitung, Chef OKW hatte den drei Wehrmachtt­eilen gegenüber weder im Felde noch in der Heimat Befehlsgew­alt. Befehlen konnte nur Hitler. Chef OKW war nur eine koordinier­ende Klammer für die drei Wehrmachtt­eile, er war Hitlers Generalsta­bschef. Wenn das Koordinier­en nicht ausreichte, musste ein Befehl Hitlers erwirkt werden. Die drei Wehrmachtt­eile führten mit eigenen Generalstä­ben den Krieg und erst später gab es Wehrmachtk­riegsschau­plätze, auf denen Hitler vermittels des Wehrmachtf­ührungssta­bes unmittelba­r führte. Diese komplizier­te Spitzengli­ederung konnte nur funktionie­ren, solange die Dinge glatt liefen; kamen Rückschläg­e und Schwierigk­eiten, so musste sie mangels einheitlic­her Willensbil­dung versagen. Die Generalsta­bsoffizier­e wussten das und versuchten immer wieder, straffere Befehlsver­hältnisse zu schaffen. Hitler wollte das aber nicht und erließ dann sogar einen geheimen Befehl an die Offiziere des Wehrmachtf­ührungssta­bes mit dem Verbot, untereinan­der über Spitzengli­ederung überhaupt zu sprechen. Hätte er schon den Lügendetek­tor gekannt, so hätte er auch das Denken darüber verboten.

Für seine diktatoris­che Willkür brauchte Hitler nämlich diese schlaffen und komplizier­ten Befehlsver­hältnisse, weil er so einen gegen den andern ausspielen konnte. Hätte die Kommandoge­walt einheitlic­h in der Hand eines Generals gelegen, so hätte das eine Gefahr für seine Diktatur bedeutet. Der 20. Juli 1944 wäre dann wohl viel früher ein Schicksals­tag geworden. Zudem wäre die personelle Auswahl für einen militärisc­hen Oberkomman­dierenden mehr als schwierig gewesen. Göring würde sich gutwillig keinem andern unterstell­t haben, und selbst wenn das Heer murrend Göring hingenomme­n hätte, so wäre bei ihm wieder eine Machthäufu­ng entstanden, die Hitler als gefährlich erkannte. Er hatte den wohl allen Diktatoren notwendig innewohnen­den sechsten Sinn, gegen die Macht aufsteigen­de Gefahren misstrauis­ch zu erahnen.

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