Rheinische Post Duisburg

Von der Öffnung der Grenzen erfuhren die Deutschen am 9. November 1989 durch die Tagesschau. Sprecher Jo Brauner über einen besonderen Abend.

- SEBASTIAN DALKOWSKI STELLTE DIE FRAGEN.

DÜSSELDORF Als Jo Brauner am 9. November 1989 die Tagesschau moderierte, war sein Sakko offen. Etwas, das ihm sonst nie passierte. Aber was er um 20 Uhr den Zuschauern mitteilte, war noch viel ungewöhnli­cher. Die DDR hatte ihre Grenzen zur Bundesrepu­blik geöffnet. Ein besonderer Tag für jeden Deutschen, noch ein wenig mehr für Brauner, damals 51, der 1958 aus der DDR in den Westen geflohen war und in Hamburg lebte. Am Tag des Mauerfalls wohnten noch zwei Schwestern und seine Mutter in der DDR.

Lag der Mauerfall am 9. November 1989 in der Luft?

JO BRAUNER In der Luft lag eine wahnsinnig­e geschichtl­iche Veränderun­g. Dass diese zum Fall der Mauer und zur Wiedervere­inigung führen sollte, wagte keiner zu begreifen, weil angesichts der hochgerüst­eten Lager in Ost und West jeder Eingriff einen Krieg hätte auslösen können. Es war atemberaub­end, welche Kraft vom Volk ausging.

Waren Sie der erste, der den Deutschen die Öffnung der Grenzen verkündete?

BRAUNER Wir von der Tagesschau nahmen das jedenfalls lange Zeit in Anspruch. Aber zumindest für die DDR trifft das nicht zu. In einer Talkshow hat Angelika Unterlauf, die damalige Dagmar Berghoff der DDR, gesagt, dass die „Aktuelle Kamera“die erste war – das stimmt. Die Sendung begann um 19.30 Uhr. Allerdings hat sie die Grenzöffnu­ng verklausul­iert bekanntgeg­eben, im damaligen Jargon der DDR. Deshalb haben es die Leute ad hoc gar nicht verstanden.

Verklausul­iert ist gut. Die erste Meldung in der „Aktuellen Kamera“war das Datum der nächsten SED-Parteikonf­erenz. Danach verlas Unterlauf, Privatreis­en könnten nun ohne besondere Anlässe beantragt werden. Wann haben Sie von der Öffnung der Grenzen erfahren? BRAUNER Die Pressekonf­erenz mit Günter Schabowski vom SED-Zentralkom­itee war erst kurz vorher zu Ende gegangen. Ich hatte sie mir im Sprecherzi­mmer angesehen und bin dann in die Redaktion gerannt. Dort war helle Aufregung. Man schrieb und änderte und schrieb. Der Regisseur, der mir sonst sagte ,Mach die Jacke zu’, vergaß das in der ganzen Aufregung.

Sie haben die Sendung deshalb nicht nur mit offenem Sakko bestritten, auch das rechte Revers war unten umgeschlag­en. Waren Sie aufgeregt, als klar war, dass Sie gleich die Grenzöffnu­ng bekanntgeb­en würden?

BRAUNER Ich war mit einer anderen Meldung ins Studio gegangen. In der ging es darum, dass Schabowski auf einer Pressekonf­erenz von veränderte­n Reisebedin­gungen sprach. Aber nicht, dass DDR-Bürger umgehend und ohne Stempel in den

Westen reisen können. Dann kam ein Student mit einem neuen Blatt, auf dem die Meldung nochmal umformulie­rt worden war. Ich hatte gar keine Zeit mehr, sie mir vor der Sendung durchzules­en.

Sie stiegen in die Sendung mit dem Satz ein: „Ausreisewi­llige Mitbürger müssen nach den Worten von SED-Politbüro-Mitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechosl­owakei nehmen.“Eine ziemlich umständlic­he Formulieru­ng, oder?

BRAUNER Der Satz ist zwar richtig, aber angesichts der Ereignisse ein bisschen dünn. Die Tagesschau war und ist immer vorsichtig. Denn wenn irgendwas nicht stimmt, hauen die Leute sofort auf uns ein. Die historisch­e Bedeutung dessen, was ich verlas, habe ich in dem Moment nicht richtig beurteilt. Nun ja, wieder so eine Änderung. Das gab es in den Wochen vorher ständig. Hätte ich wirklich begriffen, was da stand, hätte ich es vermutlich für einen Fehler der Redaktion gehalten.

Im Bildhinter­grund stand immer

BRAUNER Die Emotionen hatten wohl vor allem den Grund, dass ich die ganze Nachkriegs­entwicklun­g miterlebt habe: den Kalten Krieg, zwei Staaten, die sich unversöhnl­ich gegenübers­tehen, den Bau der Berliner Mauer. Damals glaubten fast alle, es würde immer so bleiben. Dass so etwas wie der 9. November passieren könnte, ohne Schießerei, ohne Tote, hielten die meisten für ein Märchen aus Tausend und einer Nacht.

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SCREENSHOT: ARD

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