Rheinische Post Duisburg

Die Rente mit 69 spaltet die Nation

Das Plädoyer der Bundesbank für ein höheres Renteneint­rittsalter ist aus Sicht von Arbeitgebe­rn sinnvoll. Linke und Gewerkscha­fter sprechen von Rentenkürz­ungen. Aber das trifft nicht den Kern des Problems.

- VON GEORG WINTERS

DÜSSELDORF Wenn die sogenannte Baby-Boomer-Generation in Rente geht, steigt die Zahl der Rentenempf­änger deutlich. Heute kommen auf 100 Beitragsza­hler in Deutschlan­d gut 60 Rentner; im Jahr 2030 werden es nach Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln 100. Dann käme auf jeden Beitragsza­hler ein Rentner. Die Konsequenz­en sind schon oft diskutiert worden: Die Beitragssä­tze müssten steigen, die Rentenempf­änger weniger kassieren. Oder das Renteneint­rittsalter müsste steigen.

Der jüngste Vorschlag dazu kommt von der Bundesbank. Er propagiert die Rente mit 69 (genauer gesagt: mit 69 Jahren und vier Monaten) und hat die erwartbare­n Reaktionen hervorgeru­fen. Dabei ist er gar nicht neu. Die Bundesbank selbst hat ihn schon 2016 gemacht, das IW sprach sich 2017 sogar für eine Rente mit 70 aus.

Aber was schon so oft debattiert wurde, spaltet auch jetzt die Nation. Arbeitgebe­r sprechen von einem sinnvollen Vorschlag, das IW lobt ihn als „Beitrag zur Stabilisie­rung der gesetzlich­en Rentenvers­icherung“, die Linken nennen ihn dagegen „weltfremd“und bezeichnen ihn als „versteckte Rentenkürz­ung“. DGB-Vorstandsm­itglied Annelie Buntenbach klagt mit Blick auf ein höheres Sterblichk­eitsrisiko mancher Arbeitnehm­er: „Wer das Renteneint­rittsalter anhebt, kürzt all diesen Menschen eiskalt deren Rente.“

Zur Sache: Die Bundesbank hat errechnet, dass bis 2070 der Beitragssa­tz zur Rentenvers­icherung auf 26 Prozent steigen müsse, gleichzeit­ig werde das Rentennive­au sinken, und der Bundeszusc­huss für die Rentenkass­e werde sich verdoppeln. Fazit: Das Renteneint­rittsalter müsse weiter steigen und an die Lebenserwa­rtung gekoppelt werden. So wie in Norwegen und in Schweden – da liegt er schon bei 70 Jahren. Gleichzeit­ig ist der Rentenbegi­nn flexibler, das heißt, man kann deutlich früher aufhören. Allerdings sind die Abschläge auch höher: Für jeden Monat, den ein Arbeitnehm­er früher in Rente geht, muss er in der Regel auf 0,4 Prozent seiner Rente verzichten. In Deutschlan­d sind es „nur“0,3 Prozent. In den Niederland­en gilt ab 2021 die Rente mit 67, ohne dass die Grundrente vorzeitig kassiert werden darf.

Für den Rentenexpe­rten Bernd Raffelhüsc­hen (Uni Freiburg) ist das Vorgehen der Skandinavi­er folgericht­ig: „Jeder Tag, den ein Rentenempf­änger lebt, ist ein Tag längere Rentenbezu­gszeit. Das geht zu Lasten der Beitragsza­hler“, sagte Raffelhüsc­hen unserer Redaktion. Schon jetzt sei es so, dass bei der Rente mit 67 Langzeitve­rsicherte 2030 auch mit 65 schon abschlagfr­ei gehen könnten. Und da die Menschen nach 2030 auch eine höhere Lebenserwa­rtung hätten, müsse das effektive Rentenalte­r steigen. Womöglich spielt der Fachkräfte­mangel solchen Überlegung­en in die Karten: „Wir versuchen, Zuwanderun­g nach Qualifikat­ion zu steuern. Dabei ist das vielfach nicht nötig, weil wir genug qualifizie­rte Menschen haben“, sagt Raffelhüsc­hen. Jeder, der länger arbeite, laufe weniger Gefahr, ein Opfer von Altersarmu­t zu werden. Das ist aber die Befürchtun­g der Gewerkscha­ften: Je weiter das Renteneint­rittsalter steigt, um so mehr verlieren Arbeitnehm­er, die früher in Rente gehen (müssen).

Das ist nicht der Kern des Problems. „Weil die Menschen immer älter werden, beziehen sie ihre Rente länger. 1970 erhielt ein Rentner in Westdeutsc­hland im Schnitt elf Jahre lang sein Geld, aktuell sind es rund 20 Jahre“, schreibt IW-Experte Jochen Pimpertz. Beitragsza­hler müssten heute also Rentner aus neun zusätzlich­en Jahrgängen finanziere­n. Auch deshalb sei die Zahl der Renten in Deutschlan­d seit der Wiedervere­inigung um mehr als sechs Millionen auf mehr als 20 Millionen gestiegen. „Eine höhere Altersgren­ze ist also notwendig, damit das zahlenmäßi­ge Verhältnis von Rentnern zu Beitragsza­hlern nicht aus dem Ruder läuft“, so Pimpertz.

Das eigentlich­e Thema ist also eine längere Lebensarbe­itszeit (so lange das gesundheit­lich geht). „Es geht darum, Menschen länger in Beschäftig­ung zu halten“, sagt Pimpertz. Schon heute gingen mehr als 200.000 Arbeitnehm­er pro Jahr vorzeitig ohne Abschläge in Rente. Deshalb schlägt der IW-Experte vor: „Ich würde die vorgezogen­e abschlagfr­eie Rente komplett abschaffen.“

Für Florian Blank, Rentenexpe­rte beim Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Institut der Hans-Böckler-Stiftung, greift die Diskussion indes zu kurz: „Der reine Blick auf die Rententech­nik blendet mögliche positive Entwicklun­gen am Arbeitsmar­kt und die Rolle der Arbeitsmar­ktpolitik aus.“Frauen, ältere Arbeitnehm­er und Menschen mit Migrations­hintergrun­d sollten besser in den Arbeitsmar­kt integriert werden, und die Auswirkung­en der Rente mit 67 sollten zunächst geprüft werden, ehe an eine weitere Verlängeru­ng der Lebensarbe­itszeit gedacht werden sollte, so Blank.

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