Die Rente mit 69 spaltet die Nation
Das Plädoyer der Bundesbank für ein höheres Renteneintrittsalter ist aus Sicht von Arbeitgebern sinnvoll. Linke und Gewerkschafter sprechen von Rentenkürzungen. Aber das trifft nicht den Kern des Problems.
DÜSSELDORF Wenn die sogenannte Baby-Boomer-Generation in Rente geht, steigt die Zahl der Rentenempfänger deutlich. Heute kommen auf 100 Beitragszahler in Deutschland gut 60 Rentner; im Jahr 2030 werden es nach Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln 100. Dann käme auf jeden Beitragszahler ein Rentner. Die Konsequenzen sind schon oft diskutiert worden: Die Beitragssätze müssten steigen, die Rentenempfänger weniger kassieren. Oder das Renteneintrittsalter müsste steigen.
Der jüngste Vorschlag dazu kommt von der Bundesbank. Er propagiert die Rente mit 69 (genauer gesagt: mit 69 Jahren und vier Monaten) und hat die erwartbaren Reaktionen hervorgerufen. Dabei ist er gar nicht neu. Die Bundesbank selbst hat ihn schon 2016 gemacht, das IW sprach sich 2017 sogar für eine Rente mit 70 aus.
Aber was schon so oft debattiert wurde, spaltet auch jetzt die Nation. Arbeitgeber sprechen von einem sinnvollen Vorschlag, das IW lobt ihn als „Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung“, die Linken nennen ihn dagegen „weltfremd“und bezeichnen ihn als „versteckte Rentenkürzung“. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach klagt mit Blick auf ein höheres Sterblichkeitsrisiko mancher Arbeitnehmer: „Wer das Renteneintrittsalter anhebt, kürzt all diesen Menschen eiskalt deren Rente.“
Zur Sache: Die Bundesbank hat errechnet, dass bis 2070 der Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 26 Prozent steigen müsse, gleichzeitig werde das Rentenniveau sinken, und der Bundeszuschuss für die Rentenkasse werde sich verdoppeln. Fazit: Das Renteneintrittsalter müsse weiter steigen und an die Lebenserwartung gekoppelt werden. So wie in Norwegen und in Schweden – da liegt er schon bei 70 Jahren. Gleichzeitig ist der Rentenbeginn flexibler, das heißt, man kann deutlich früher aufhören. Allerdings sind die Abschläge auch höher: Für jeden Monat, den ein Arbeitnehmer früher in Rente geht, muss er in der Regel auf 0,4 Prozent seiner Rente verzichten. In Deutschland sind es „nur“0,3 Prozent. In den Niederlanden gilt ab 2021 die Rente mit 67, ohne dass die Grundrente vorzeitig kassiert werden darf.
Für den Rentenexperten Bernd Raffelhüschen (Uni Freiburg) ist das Vorgehen der Skandinavier folgerichtig: „Jeder Tag, den ein Rentenempfänger lebt, ist ein Tag längere Rentenbezugszeit. Das geht zu Lasten der Beitragszahler“, sagte Raffelhüschen unserer Redaktion. Schon jetzt sei es so, dass bei der Rente mit 67 Langzeitversicherte 2030 auch mit 65 schon abschlagfrei gehen könnten. Und da die Menschen nach 2030 auch eine höhere Lebenserwartung hätten, müsse das effektive Rentenalter steigen. Womöglich spielt der Fachkräftemangel solchen Überlegungen in die Karten: „Wir versuchen, Zuwanderung nach Qualifikation zu steuern. Dabei ist das vielfach nicht nötig, weil wir genug qualifizierte Menschen haben“, sagt Raffelhüschen. Jeder, der länger arbeite, laufe weniger Gefahr, ein Opfer von Altersarmut zu werden. Das ist aber die Befürchtung der Gewerkschaften: Je weiter das Renteneintrittsalter steigt, um so mehr verlieren Arbeitnehmer, die früher in Rente gehen (müssen).
Das ist nicht der Kern des Problems. „Weil die Menschen immer älter werden, beziehen sie ihre Rente länger. 1970 erhielt ein Rentner in Westdeutschland im Schnitt elf Jahre lang sein Geld, aktuell sind es rund 20 Jahre“, schreibt IW-Experte Jochen Pimpertz. Beitragszahler müssten heute also Rentner aus neun zusätzlichen Jahrgängen finanzieren. Auch deshalb sei die Zahl der Renten in Deutschland seit der Wiedervereinigung um mehr als sechs Millionen auf mehr als 20 Millionen gestiegen. „Eine höhere Altersgrenze ist also notwendig, damit das zahlenmäßige Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern nicht aus dem Ruder läuft“, so Pimpertz.
Das eigentliche Thema ist also eine längere Lebensarbeitszeit (so lange das gesundheitlich geht). „Es geht darum, Menschen länger in Beschäftigung zu halten“, sagt Pimpertz. Schon heute gingen mehr als 200.000 Arbeitnehmer pro Jahr vorzeitig ohne Abschläge in Rente. Deshalb schlägt der IW-Experte vor: „Ich würde die vorgezogene abschlagfreie Rente komplett abschaffen.“
Für Florian Blank, Rentenexperte beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung, greift die Diskussion indes zu kurz: „Der reine Blick auf die Rententechnik blendet mögliche positive Entwicklungen am Arbeitsmarkt und die Rolle der Arbeitsmarktpolitik aus.“Frauen, ältere Arbeitnehmer und Menschen mit Migrationshintergrund sollten besser in den Arbeitsmarkt integriert werden, und die Auswirkungen der Rente mit 67 sollten zunächst geprüft werden, ehe an eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit gedacht werden sollte, so Blank.