Rheinische Post Duisburg

Regierungs­krise in Polen wegen Streits über Wahltermin

- VON ULRICH KRÖKEL

WARSCHAU Jaroslaw Gowin holte das ganz große Besteck hervor. Und doch wirkten die Sätze des polnischen Wissenscha­ftsministe­rs nicht übertriebe­n: „Wir stehen hier vor unserem eigenen Gewissen, vor der Geschichte und der Nation. Wir haben die Wahl zwischen Leben und Tod.“Damit war dem letzten politisch Interessie­rten im Land klar, dass die Corona-Krise auch die Politik in Warschau aus der Bahn geworfen hat.

Über Stunden stand am Freitag sogar ein Zusammenbr­uch der rechtsnati­onalen PiS-Regierung im Raum. Vor einer geplanten, immer wieder verschoben­en Sejm-Sitzung rang Gowin hinter den Kulissen mit PiSChef Jaroslaw Kaczynski um den Zusammenha­lt der Fraktionsg­emeinschaf­t. Gowin, der eine Gruppe von 18 gemäßigt-konservati­ven Abgeordnet­en anführt und damit die absolute Mehrheit der PiS im Parlament sichert, verlangte eine Aussetzung der für den 10. Mai geplanten Präsidente­nwahl. „Das Datum ist unter medizinisc­hen Gesichtspu­nkten nicht zu halten“, erklärte der Minister. Sicherer wäre eine Verschiebu­ng um zwei Jahre. Am Ende zwang er Kaczynski, der selbst kein Regierungs­amt innehat, auf seinen Kurs.

Eine Parteispre­cherin unterstütz­te kurz vor Beginn der Sitzung im Namen des PiS-Vorsitzend­en Gowins Vorschlag, die Amtszeit von Präsident Andrzej Duda bis 2022 zu verlängern, ohne die Möglichkei­t einer Wiederwahl. Das war eine Niederlage oder mindestens ein schmerzhaf­ter Kompromiss für Kaczynski. Noch am Freitagmor­gen hatte er auf dem

Termin 10. Mai und einem reinen Briefwahlv­erfahren beharrt, um seinem Kandidaten Duda den Verbleib im Präsidente­npalast für fünf Jahre zu sichern. Denn an einem Wahlsieg Dudas gab es mit Blick auf die Umfragen keine Zweifel. Nun aber bot sich Kaczynski und Duda nur die Aussicht auf zwei weitere Jahre Machterhal­t.

Polnische Medien berichtete­n am Nachmittag, Duda habe dem Plan dennoch zugestimmt. Damit allerdings war erst für den zweiten Teil des Dramas angerichte­t. Denn Gowin und PiS-Sprecherin Anita Czerwinska

wiesen darauf hin, dass eine Verschiebu­ng der Wahl und eine Amtszeitve­rlängerung für Duda nur mit einer Verfassung­sänderung möglich seien. Dafür brauchte die Regierung die Unterstütz­ung der Opposition, die sich zunächst für eine Vertagung der Sejm-Beratungen auf Montag aussprach, um sich sortieren zu können. Das lehnte die PiS-Mehrheit ab. Schließlic­h wurde die Sitzung auf den Abend verlegt. Beobachter erwarteten eine Nachtsitzu­ng.

Viel deutete bei der Wiederaufn­ahme darauf hin, dass die Opposition nicht auf Gowins Vorschlag eingehen wollte. Szymon Holownia, einer der eher chancenlos­en Duda-Herausford­erer bei der Präsidente­nwahl, twitterte: „Ich bin mit Jaroslaw Gowin einverstan­den, dass die Wahl nicht am 10. Mai stattfinde­n kann. Aber ich verstehe nicht, warum wir die Amtszeit von Andrzej Duda um zwei Jahre verlängern sollten. Es gibt klare Verfassung­sregeln, um den Katastroph­enfall auszurufen, und die Bedingunge­n dafür sind erfüllt.“Genau dagegen hatte sich aber mehrfach PiS-Chef Kaczynski ausgesproc­hen.

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