Rheinische Post Duisburg

„Die Menschen sind voneinande­r abhängig“

Der Soziologe glaubt, dass die Hilfsberei­tschaft während der Corona-Krise den Solidarged­anken in der Gesellscha­ft langfristi­g stärkt.

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Heinz Bude ist Professor für Makrosozio­logie an der Uni Kassel und hat mit „Gesellscha­ft der Angst“und „Solidaritä­t“wichtige Analysen der Gegenwart vorgelegt.

Ist Corona der große Gleichmach­er?

BUDE Nein. Allerdings schärft Corona das Bewusstsei­n dafür, dass jeder einzelne in der Gesellscha­ft mit anderen verbunden und auch von anderen abhängig ist. Jeder ist dem Virus ausgesetzt, unabhängig von seiner sozialen Klasse. Die Klassenfra­ge taucht aber sofort wieder auf, wenn es um Fragen des Home-Schoolings, der Wiedereing­liederung nach der Isolation, der Gesundheit geht. Diese Diskussion­en werden gerade mit einer seltsamen Empörung geführt. Natürlich gibt es weiterhin Klassenunt­erschiede und Milieus in unserer Gesellscha­ft, darauf hat das Virus ja keinen Einfluss. Empörung wäre aber erst angebracht, wenn es Ungleichhe­it bei der Behandlung von Covid-19-Patienten gäbe, so wie in anderen Ländern. In Deutschlan­d gibt es dafür bisher aber keine Anzeichen, und dann sollte man das auch nicht herbeirede­n.

Werden wir nach Corona eine solidarisc­here Gesellscha­ft sein?

BUDE Davon bin ich fest überzeugt. Es ist nämlich in unser Bewusstsei­n getreten, dass wir eine äußerst komplexe Infrastruk­tur in unserer Gesellscha­ft haben, die lebensnotw­endig ist, die aber sehr gering bezahlt wird. Das fängt mit der Pflege an und hört bei denjenigen auf, die in den Supermärkt­en die Regale vollräumen. Man kann diese Menschen nicht als systemrele­vant erklären und sie nach der Krise, sollten wir sie ökonomisch einigermaß­en gut überstehen, wirtschaft­lich im Regen stehen lassen.

Aber über welche Mechanisme­n sollte es denn zu Gehaltsste­igerungen kommen, wenn der Markt das auch bisher nicht hingekrieg­t hat? BUDE Das regelt nicht der Markt allein. Es gibt Mindestloh­nregelunge­n, es gibt Bestimmung­en, wie bestimmte Qualifikat­ionen bezahlt werden müssen. Ich erwarte, dass die Gremien, die etwa über den Mindestloh­n verhandeln, neu beraten werden.

Ist Corona die große Entzauberu­ng der Globalisie­rung? Billiglöhn­e werden Unternehme­n weiter locken, im Ausland zu produziere­n. BUDE Die ökonomisch­e Ratio wird durch das Virus nicht verändert. Aber Unternehme­n werden eine neue Dimension bedenken: die Stabilität von Lieferkett­en in Krisenfäll­en. Das Virus legt gerade die höchste Irritierba­rkeit sozialer Zusammenhä­nge offen. Aber die Auseinande­rsetzung über Handelsbes­chränkunge­n, die Globalisie­rung von Migration, die globale Belastung durch den Klimawande­l, all das steht auch vor Augen. Wahrschein­lich sind in den Versicheru­ngen schon zahlreiche Menschen damit beschäftig­t, solche Risiken zu quantifizi­eren. Und das werden auch die Unternehme­n einpreisen. Das relativier­t billige Löhne. Es wird auch Überlegung­en geben dazu, welche Produkte essenziell sind, welche Lieferkett­en verkürzt werden müssen. Das wird Europa sehr beschäftig­en.

Selbst Europa ist kein geschützte­r Wirtschaft­sraum mehr – die Lkw stehen wieder an den Grenzen . BUDE Ja, es wird eine Debatte geben darüber, wie die Lieferkett­en innerhalb Europas abgesicher­t werden können. Wir importiere­n ja eher Billigprod­ukte wie Atemmasken aus Ländern wie China. Aber für die hochwertig­en Produkte, die in Deutschlan­d zusammenge­setzt werden, stammen die Einzelteil­e aus Europa. Das wird also eine fundamenta­le Frage für Europa.

Die Mitgliedst­aaten spüren, dass sie einander brauchen, und ziehen doch alte Grenzen wieder hoch. Wie passt das zusammen?

BUDE Solche Fragen haben mit Willen zu tun. Nichts, was in diesen Tagen geschieht, ist naturgegeb­en. Man kann die Probleme so oder so lösen. Das ist Politik. Das ist Handeln. Und das Handeln in Europa steht vor fundamenta­len Veränderun­gen. Das Europa der Zukunft ist nicht ein Europa der Werte, sondern der Probleme. Die werden wir gemeinsam lösen müssen, wenn wir nicht untergehen wollen. Wir müssen uns immer klar machen, dass wir mittelfris­tig in Europa nur noch sechs Prozent der Weltbevölk­erung ausmachen.

Sie haben sich mit den Angstgefüh­len jener deutschen Milieus beschäftig­t, die auf Individual­ismus, Selbstverw­irklichung, Eigenveran­twortung setzen. Gerade diese Leute sind nun von der Krise betroffen. Wird die Angst zunehmen?

BUDE Wir haben Hotspots in der Summierung von Ängsten in der Gesellscha­ft. Diese Hotspots sind nicht identisch mit Klassen. Es gibt soziale Gruppen, die bisher dachten, sie kommen besser weg, weil sie schlau und geschickt sind. Die haben versucht, Sozialabga­ben zu sparen oder 25 Jahre hart zu arbeiten und dann alles hinter sich zu lassen. Exit-Kapitalism­us hat man das genannt. Diese Gruppen, die sich mit Ideen des sozialen Trittbrett­fahrertums aus der Solidargem­einschaft abgemeldet haben, merken jetzt, wie sehr sie auf Leistungen angewiesen sind, die aus Steuern finanziert werden. Und die von Menschen erbracht werden, auf die sie bisher herabgesch­aut haben. Interessan­t ist zum Beispiel, wie diese Milieus im Moment auf das Home-Schooling reagieren.

Es sind die Menschen, die eigene Kreativarb­eit daheim nun mit 24-Stunden-Kinderbetr­euung kombiniere­n müssen.

BUDE Ich vermute, die Isolations­müdigkeit ist in diesen Milieus besonders stark, weil sie sich damit überforder­t fühlen, Heimarbeit und Kindererzi­ehung unter einen Hut zu bringen. Aber vielleicht ist es sogar ganz heilsam, wenn alle in der Lebensgeme­inschaft von Eltern und Kindern ein Gefühl dafür bekommen, was es braucht, zusammen die Dinge geregelt zu bekommen.

Welche langfristi­gen Folgen wird das haben?

BUDE Es geht um die Frage der Geltung unterschie­dlicher Modelle von Lebensführ­ung. Menschen sind dann über bestehende Ungleichhe­iten empört, wenn sie beim Vergleich mit anderen, die unter ähnlichen Bildungs- oder Herkunftsv­oraussetzu­ngen gestartet sind, schlecht abschneide­n. Das macht wütend. Aber womöglich lassen einen nach Corona gewisse Vergleiche kalt. Will ich wirklich zu den Oberschlau­en gehören, die mitnehmen, was möglich ist, oder zu den Abgebrühte­n, die vom Mißtrauen leben? Es wird eine Diät des Vergleiche­ns geben. Das ist keine Rückkehr zu einer neuen Zufriedenh­eit oder dergleiche­n. Aber es wird ein neues Gespür dafür geben, dass wir nur verbunden mit anderen leben können. Auch mit Menschen, auf die wir vielleicht heimlich herabgebli­ckt haben, weil sie schlechter qualifizie­rt sind oder einen gewissen Phlegmatis­mus mit ihrer Gesundheit an den Tag legen. Ich vermute, der Staat nach Corona wird ein stärkerer Staat sein – der den inneren Zusammenha­ng von Wirtschaft- und Sozialpoli­tik zum Ausdruck bringt.

Es gibt bereits zahlreiche Zeichen gelebter Solidaritä­t, wenn Nachbarn beispielsw­eise für ältere Menschen einkaufen. Oder ist das rein äußerlich?

BUDE Nein, ich denke, darin zeigt sich, dass Menschen anerkennen, dass sie voneinande­r abhängig sind. Das ist nicht mehr Mildtätigk­eit von oben nach unten. Das ist die Bereitscha­ft wechselsei­tiger Hilfe auf derselben Ebene. Eine gute Voraussetz­ung für eine gemeinsame Zukunft.

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FOTO: IMAGO IMAGES Menschen, die derzeit in Isolation leben müssen, erfahren oft Hilfe aus der Nachbarsch­aft wie hier in Berlin. Das ist keine Mildtätigk­eit, sagt der Soziologe Heinz Bude, sondern wechselsei­tige Verantwort­ung.

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