„Wir halten viel Abstand, ich trage eine Maske und desinfiziere natürlich vor und nach jedem Besuch meine Hände“
Das Sterben gehört zum Leben, aber zu dem von Claudia Heek gehört es besonders. Wenn sie erzählt, wie es dazu kam, erzählt sie vom Lieblingsopi. Davon, wie sein Herz einfach aufhörte zu schlagen, und es okay war. Viele Tränen, natürlich, aber der Abschied war schön. An jenem Tag, es ist das Jahr 1967, taucht der Tod das erste Mal im Leben von Heek auf. Gerade mal sechs Jahre ist sie da alt und steht mit der Familie im Wohnzimmer. Vor ihnen hat man den Leichnam aufgebahrt.
Der Großvater war ein liebevoller alter Mann, der sich erst um die Enkel und danach um die anderen Dinge kümmerte. Die kleine Claudia weint, aber der Moment hat etwas Tröstliches. Freunde und Nachbarn sind gekommen, das Zimmer ist festlich dekoriert, es stehen Kerzen da, der Großvater trägt sein feinstes Hemd. Zwei Tage liegt er dort. Als er beerdigt wird, hatten die meisten schon Tschüss gesagt.
Heute, mehr als 50 Jahre später, verabschiedet Claudia Heek alle paar Monate einen Menschen. Sie lernt sie erst in ihren letzten Wochen kennen, aber das sind meistens auch die, in denen sie am dringendsten eine Freundin wie Heek brauchen. Die 58-Jährige ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin bei der Hospizbewegung Duisburg-Hamborn. Vor zwei Jahren hat sie sich dort gemeldet, weil, so sagt sie, endlich die Zeit da war. „Ich wusste immer, wenn ich ein Ehrenamt ausfülle, dann eins, wo man die Menschen an ihrem Ende begleitet“, sagt Heek.
Der Hospizdienst besucht die Menschen zu Hause. Er will dort die Familien entlasten und den Sterbenden trotzdem ihre Freiheit lassen. Heek erfüllt alle Wünsche, die in den letzten Tagen und Wochen noch machbar sind. Es gibt Hafermilch oder das Bier von damals, das so schön zischt. Gemeinsam blättert man durch Fotoalben, in denen junge Paare mit einem Wohnmobil die Welt bereisen. Heek geht im Wald spazieren und hört Geschichten über die gute alte Zeit, als der MSV Duisburg noch in der Ersten Bundesliga gespielt hat. Manchmal geht sie auch auf Beerdigungen. „Das wichtigste ist, dass die Menschen nicht alleine sterben“, sagt Heek.
Jetzt, in der Corona-Krise, ist das nicht so leicht. Altenheime und Hospize haben ein Besuchsverbot erlassen, damit das Virus draußen bleibt. Ausnahmen gibt es am Sterbebett für die engsten Verwandten. Zu den Menschen nach Hause kann der Hospizdienst zwar, aber es gibt Regeln. Den Ehrenamtlichen und Sterbenden ist es freigestellt, ob sie die persönlichen Besuche weiterführen oder lieber nur telefonieren möchten.
Heek besucht derzeit nur eine Person, einen älteren Mann. Es ist ihre fünfte Begleitung. Gemeinsam haben sie entschieden, dass sie auch weiterhin Zeit mit ihm verbringen wird. Bis zum Ende. „Wir halten viel Abstand, ich trage natürlich eine Maske und desinfiziere meine Hände vor und nach jedem Besuch“, sagt Heek. Umarmungen gibt es nicht mehr.
Der Sterbende ist ein Duisburger Urgestein, ein Familienmensch. Müsste Heek ihn mit einem Wort beschreiben, ist es liebevoll. Einmal die Woche kommt sie vorbei, jetzt etwas weniger, denn sein Zustand hat sich zuletzt verschlechtert. Er wird bald sterben, das kann auch eine Atemschutzmaske nicht mehr verhindern. Wenn die Sonne scheint, spazieren die beiden manchmal am Rhein entlang. Heek nimmt ein paar Kissen und eine Decke mit, dann setzen sie sich auf eine Bank und beobachten alles, was übers Wasser fährt. Schiffe sind sein großes Hobby, neben Fußball natürlich. Eigentlich wollte er noch ein letztes Mal ins Stadion. Jetzt ist der Virus da und die Zeit zu knapp.
Sterbebegleiter, sagt Heek, könne jeder werden. Man brauche nur das Herz am rechten Fleck. Das klingt so einfach, aber der Hospizdienst bildet die Begleiter mehrere Monate aus. Einmal pro Woche gibt es ein Seminar, in dem die Ehrenamtlichen den Umgang mit den Sterbenden und ihren Angehörigen lernen. „Wichtig ist, die Menschen in jeder Situation zu achten und zu respektieren“, sagt Heek. Meistens sei ihnen klar, dass sie sterben werden. Man versuche dann, die letzten Tage so schön wie möglich zu machen. Teil der Ausbildung ist auch der Umgang mit dem Tod. Regelmäßig können die Begleiter psychologische Gespräche mit dem Hospizdienst führen, um damit umzugehen, wenn ein Fall zu belastend ist.
Heek hat dort einmal angerufen, es hat geholfen. Alle Sterbenden, die sie bisher getroffen hat, waren lebensmutig. Sie konnten hin und wieder lachen, trotz allem. Dennoch, heute sterben die Menschen anders, sagt sie. „Wir neigen dazu, den Tod nicht mehr als Teil unseres Lebens zu begreifen“. Irgendwann sei er da und um den Rest kümmere sich dann der Bestatter. Kein Aufbahren
mehr, keine Festlichkeiten, kein Abschied wie früher. Vielleicht, sagt sie, liege das auch daran, dass es der Gesellschaft heute, mit dem ganzen medizinischen Fortschritt so viel schwerer falle, geliebte Menschen überhaupt loszulassen. Sterben, das ist ja vor allem erstmal irgendwie zu vermeiden.
Das Leben einfach aufzugeben, bedeute das aber nicht. Heek ist gegen die aktive Sterbehilfe, also das etwa in den Niederlanden praktizierte Töten auf Verlangen, wenn ein kranker Mensch es wünscht. Sie sagt das nicht nur weil sie an Gott glaubt sondern auch daran, dass das Sterben unausweichbar am Ende eines Lebens stehe und nicht einfach ausgelöst werden dürfe. Schmerzen sollte aber niemand haben. Würdevoll müsse es schon sein. Und da trägt sie ja auch einen Teil zu bei.
Bald wird auch das Duisburger Urgestein sterben. Heek begleitet ihn schon seit Dezember, das ist ungewöhnlich lange für den Hospizdienst, der einen Sterbenden sonst nur ein paar Wochen besucht. Wenn es soweit ist, wird Heek nicht trauern, sondern mitfühlen. So nennt sie das. Dann zündet sie eine Kerze an. Wie damals, bei Opa.
Ehrenamtliche Sterbebegleiterin