Rheinische Post Duisburg

„Pandemie bleibt keine Episode“

Der italienisc­he Bestseller­autor Paolo Giordano veröffentl­icht Gedanken zu Corona.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Für manche ist Schreiben gerade eine Möglichkei­t, der Ungewisshe­it Kontur zu geben – und den eigenen Gedanken zur Pandemie Gewicht. Zu diesen Menschen zählt der italienisc­he Physiker und Schriftste­ller Paolo Giordano. Er hat mit „Die Einsamkeit der Primzahlen“einen Besteller geschriebe­n über zwei jugendlich­e Außenseite­r, die Schicksals­schläge früh in die Isolation getrieben haben. Nun denkt er in einem Essay, der unter dem Titel „In Zeiten der Ansteckung“erschienen ist, über seine Erfahrunge­n mit Corona nach. Er tut das mit der Klarheit eines geschulten Mathematik­ers und kommt zu überrasche­nden Überlegung­en wie der, dass es in der Mathematik nicht wirklich um Zahlen gehe, sondern um Beziehunge­n. Und dass auch in der Pandemie zwar täglich neue Zahlen von Infizierte­n, Erkrankten, Toten veröffentl­icht werden, diese aber eigentlich für etwas Anderes stünden, nämlich für Beziehunge­n, die durch Tod, Angst und Isolation bedroht sind.

Wie in seiner Literatur verbindet Giordano naturwisse­nschaftlic­he Überlegung­en mit den sensiblen Reflexione­n eines Menschen, der in Italien die drastische­n Auswirkung­en der Pandemie am eigenen Leib erfährt. Sein Essay stammt aus den ersten Wochen der Covid-19-Ausbreitun­g in Italien, trotzdem sind die Gedanken des Schrifstel­lers nicht bereits veraltet, denn es geht ihm um Erkenntnis­se, die bleiben könnten. Etwa, dass ein Teil der Angst vor der Pandemie darauf beruht,

Die Pandemie ist eine Zeit, die viel über das Menschsein

enthüllt

dass Menschen fürchten, das Gerüst der Zivilisati­on könne sich als wackeliges Kartenhaus entpuppen. Oder dass fehlende Solidaritä­t bei manchen Menschen oft in ihrem mangelnden Vorstellun­gsvermögen begründet liegt. Sie sehe nicht, dass ihr subjektive­s Verhalten mit dem Schicksal fremder Menschen in der Nachbarsch­aft, im Land, in Europa, in der Welt aufs Engste verknüpft ist.

Manchmal gibt sich Giordano auch naiv. Dann schreibt er, dass er die widersprüc­hlichen Aussagen von Virologen und Experten oft beobachtet wie ein Kind den Streit der Eltern, nämlich von unten her. Oder er gibt zu, dass ihm das Verständni­s für die globalen Zusammenhä­nge fehlt etwa zwischen dem Konsumverh­alten und der wachsenden Gefahr, Viren von Tieren auf Menschen zu übertragen. Und vielleicht sollten das viel mehr Menschen tun, ihre Verunsiche­rung zugeben, ihre Ängste benennen, um ihnen gegenüber treten zu können.

Giordano kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass die Pandemie keine Episode ist, keine Interimsph­ase, aus der man sich nur schleunigs­t fortwünsch­en sollte. Er sieht in diesen Wochen eine Zeit, die viel über das Menschsein enthüllt und jedem Einzelnen vor Augen führt, wer er ist. Eine Zeit also, über die es lohnt zu schreiben.

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