„Senioren handeln nicht leichtfertig“
Viele Ältere gehen immer noch einkaufen und setzen sich der Gefahr einer Ansteckung aus. Die Gründe dafür sind vielfältig. Dazu zählen laut Experten der Wunsch nach Autonomie und der Widerwille, überbehütet zu werden.
VON JÖRG ISRINGHAUS
NEUSS So schnell will sich Werner Schell seine Freiheit nicht nehmen lassen – und weiter etwa in den Supermarkt gehen. Der 80-Jährige, der in Neuss das Selbsthilfenetzwerk „Pro Pflege“initiiert hat, zählt zwar hinsichtlich der möglichen schwerwiegenden Folgen einer Covid-19-Erkrankung wegen seines Alters zur Risikogruppe, wähnt sich aber durch sein umsichtiges Verhalten gut geschützt. „Ich nehme mich zurück“, sagt er, „trage im Laden eine Maske, weiche aus und schiebe den Einkaufswagen verkehrt herum, um die Griffe nicht anzufassen.“Vielleicht sei eine Spur Leichtsinn dabei, gibt er zu, aber das müsse jeder für sich selbst entscheiden. Tatsächlich setzen sich derzeit immer noch viele ältere Menschen im Supermarkt der Gefahr einer Ansteckung aus und über den Rat der Mediziner hinweg. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Zunächst einmal seien Ältere nicht die einzige Risikogruppe, sondern auch Raucher und chronisch Kranke, erklärt Martin Enderle, NRW-Vorsitzender des Seniorenverbandes BRH. „Alte Menschen sind aber die einzigen, die man sofort erkennt“, sagt Enderle. „Und viele fühlen sich dadurch stigmatisiert, wollen dagegenhalten.“Sie wehren sich sozusagen durch öffentliche Präsenz dagegen, diskriminiert zu werden, fühlen sich entmündigt und bevormundet. Zudem zählen beispielsweise Einkaufstouren für manche Senioren zu wichtigen Routinen, die den Tag strukturieren, und die sie sich nicht nehmen lassen wollen. Selbstständigkeit vermittelt Sicherheit, sagt Enderle, und alte Menschen wollen genauso stark erscheinen wie jüngere.
Ob sich Ältere derzeit tatsächlich vermehrt Risiken aussetzen oder ob dies nur ein Phänomen der Wahrnehmung sei, ließe sich noch nicht abschließend beantworten, erklärt Professor Clemens Tesch-Römer, Direktor des Deutschen Zentrums für Altersfragen. Daher soll dies auch zum Gegenstand neuer Studien werden. Klar sei aber: Das Ansteckungsrisiko sei zunächst mal für alle Gruppen gleich groß. „Und wenn ich als alter Mensch niemanden habe, der das Einkaufen für mich übernimmt, muss ich das selbst machen“, sagt Tesch-Römer. Dies würde momentan natürlich besonders wahrgenommen. Zudem sei der Anteil Älterer an der Gesellschaft in Deutschland hoch, auch das würde jetzt registriert. „Wir müssen daher vorsichtig sein, dass wir den Senioren hier nicht leichtfertiges Handeln zuschreiben.“
Auch Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut, plädiert für mehr Augenmaß, wenn es darum geht, den Spielraum älterer Menschen einzuschränken. „Da muss es Grenzen geben“, sagt Gigerenzer.
Denn dass viele Ältere etwa in den Supermarkt gehen, habe nichts mit erhöhter Risikobereitschaft zu tun, sondern damit, dass Menschen sich generell schwer tun, auf Gewohnheiten zu verzichten, die nie risikobehaftet waren. „Und wenn sie doch in die Isolation gehen, zahlen sie möglicherweise einen Preis dafür – zum Beispiel Einsamkeit, die auch zu Depressionen führen kann.“Deshalb dürfe man nicht nur auf das Virus schauen. Gigerenzer: „Zwar brauchen ältere Menschen unseren Schutz. Aber wenn man ihnen für lange Zeit die Autonomie nimmt, wird es vielen schwerfallen, den Weg in die Selbstständigkeit zurückzufinden.“
Dass Senioren als eigene Risikogruppe ausgewiesen seien, empfindet Tesch-Römer denn auch von der Politik als „ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen“. Stattdessen hätte man mehr differenzieren müssen, etwa nach Menschen mit multiplen oder schweren Vorerkrankungen. „Man darf nicht alle Alten über einen Kamm scheren“, sagt Tesch-Römer. Es sei in dieser Altersgruppe ein großer Widerwillen zu beobachten, überbehütet zu werden. Nichtsdestotrotz müssten sich alle Menschen, junge wie alte, ihrer Verantwortung bewusst sein. Das bedeute zum Beispiel, dass man im Falle einer Erkrankung möglicherweise ein Intensivbett benötige – dies dürfe nicht leichtfertig riskiert werden. Tesch-Römer: „Wir müssen alle abwägen, was unser Verhalten für die Gesellschaft bedeutet.“
Martin Enderle appelliert daher an alle Senioren, sich mindestens so stark zu schützen wie andere auch, also die Regeln zu beachten. Argumente wie die mancher Älteren, dass sie schon einen Krieg durchgestanden hätten oder ihre verbliebene Lebenszeit nicht in Isolation verbringen wollen, sind ihm zu starrsinnig oder zu egoistisch. Werner Schell sieht das ähnlich, will sich aber seine Autonomie nicht nehmen lassen. Wichtig sei es, sich im Alltag umsichtig zu schützen. Dazu gehöre unter anderem die Prävention, also sein Immunsystem mit viel Bewegung, ausreichend Schlaf und gutem Essen zu stärken. „Ich praktiziere das selbst, sehe aber, dass es viele Menschen ignorieren“, sagt er. „Und ein trainierter Alter ist bestimmt fitter als ein junger Raucher.“