„Sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch“
Die Kanzlerin zeigt sich besorgt darüber, wie der Kampf gegen Corona umgesetzt wird. Selten sprach sie so offen über ihre Befürchtungen.
BERLIN Angela Merkel neigt nicht zum Drama. In ihren vielen Regierungserklärungen im Bundestag hat sie die Dinge stets sortiert und oft emotionslos erklärt. Sollte sie sich je vor etwas gefürchtet haben, etwa in der Finanzkrise oder in der Flüchtlingskrise, hat sie es nicht gesagt. Anders am Donnerstag. Die mit den Ministerpräsidenten am 15. April beschlossenen Lockerungen zum langsamen Wiederhochfahren der Wirtschaft in der Corona-Krise trage sie mit, sagt sie. Aber: „Ihre Umsetzung bislang bereitet mir Sorge.“Das gehe in Teilen „sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch“.
Merkel regiert das Land seit bald 15 Jahren vor allem mit der Haltung, die Bürger nicht mit eigenen Befürchtungen zu beunruhigen. Ihre Rede im Parlament war als Erklärung ihrer EU-Politik vor dem digitalen Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Nachmittag angesetzt. Aber den Schwerpunkt legt sie diesmal auf das Inland und ihre Mahnung zu Disziplin in der Krise. Womöglich hat sie aus der Flüchtlingskrise gelernt, als ihr vorgeworfen wurde, sie erkläre ihre Politik nicht. Die Kanzlerin in Sorge und mit scharfer Kritik am Vorgehen von Ministerpräsidenten, auch wenn sie niemanden namentlich nennt – das ist jedenfalls neu. Und es ist nicht ohne Risiko. Denn es kann auch die Bürger weiter verunsichern und provoziert Widerspruch.
In ihrer Rede räumt sie ein: „Diese Pandemie ist eine demokratische
Zumutung.“Sie schränke existenzielle Rechte und Bedürfnisse ein. Das sei nur akzeptabel, wenn die Gründe transparent und nachvollziehbar seien und Kritik nicht nur erlaubt, sondern gefordert werde. Dabei seien freie Presse und föderale Ordnung hilfreich. Dafür erntet sie Gelächter, denn die Wahrnehmung der vergangenen Tage war bei vielen eher die eines Flickenteppichs als einer Ordnung, weil die 16 Länder unterschiedliche Gangarten wählten. Deshalb hatte Merkel sich in einer CDU-Schalte auch über „Öffnungsdiskussionsorgien“beklagt.
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch spricht von einem „Chaos“ in der Kommunikation der Länder, weil jedes etwas andere mache. Das könne die Akzeptanz für die Maßnahmen erschüttern. FDP-Fraktionschef Christian Lindner wirft der Bundesregierung eine irreführende Kommunikation am Beispiel Schutzmasken für die Allgemeinheit vor. Zunächst seien sie als unwirksam beschrieben worden. Nun würden sie Pflicht. Er fordert, jetzt darüber zu sprechen, wie Gesundheit und Freiheit besser miteinander zu vereinbaren seien. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sagt, die Bürger seien selbst diszipliniert genug und bräuchten den Staat nicht. Finanzminister Olaf Scholz (SPD), nicht bekannt für große Gefühlsregungen, muss da leicht mit den Augen rollen. Ohne diesen Staat würden die Menschen gerade keine Hilfsprogramme in Milliardenhöhe bekommen, die sich vor Corona niemand vorstellen konnte. Die Grünen wollen den Regierungskurs weiter stützen, verlangen aber mehr Hilfen für Hartz-IV-Empfänger.
Auf Europa kommt Merkel dann noch kurz zu sprechen und macht einen für ihre Verhältnisse riesigen Schritt, indem sie klar höhere Zahlungen in den EU-Haushalt ankündigt. Eine Aufnahme gemeinsamer Schulden will sie unbedingt verhindern. Dafür war sie nie. Aber ihrer Ansicht nach würde es Italien und Spanien in der Corona-Krise auch wenig nützen. Denn es wäre „ein zeitraubender und schwieriger Prozess“über Jahre, dafür den EU-Vertrag zu ändern und die Einwilligung der jeweiligen Parlamente einzuholen. Es gehe aber darum, jetzt schnell zu helfen, sagt Merkel und versichert deutsche Solidarität.
Sie wählt für die Bewältigung der Pandemie den Vergleich zur Langstrecke. Die Naturwissenschaftlerin muss selbst keinen Marathon gelaufen sein, um vor Aktionismus am Anfang zu warnen. Je disziplinierter sich die Gesellschaft jetzt verhalte und je konsequenter die Infektionsrate
eingedämmt werde, desto schneller könne sich das wirtschaftliche Leben wieder entfalten. „Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und Luft ausgehen dürfen.“Gerade am Anfang der Pandemie müssten alle größtmögliche Ausdauer aufbringen und dürften sich nicht „zu schnell in falscher Sicherheit wiegen“.
Beim Marathon scheitern jene Läufer, die die ersten Kilometer zu forsch angehen und dann für die ungleich härtere Schlussphase keine Reserven mehr haben. Merkel sagt: „Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern erst am Anfang.“