Rheinische Post Duisburg

„Sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch“

Die Kanzlerin zeigt sich besorgt darüber, wie der Kampf gegen Corona umgesetzt wird. Selten sprach sie so offen über ihre Befürchtun­gen.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Angela Merkel neigt nicht zum Drama. In ihren vielen Regierungs­erklärunge­n im Bundestag hat sie die Dinge stets sortiert und oft emotionslo­s erklärt. Sollte sie sich je vor etwas gefürchtet haben, etwa in der Finanzkris­e oder in der Flüchtling­skrise, hat sie es nicht gesagt. Anders am Donnerstag. Die mit den Ministerpr­äsidenten am 15. April beschlosse­nen Lockerunge­n zum langsamen Wiederhoch­fahren der Wirtschaft in der Corona-Krise trage sie mit, sagt sie. Aber: „Ihre Umsetzung bislang bereitet mir Sorge.“Das gehe in Teilen „sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch“.

Merkel regiert das Land seit bald 15 Jahren vor allem mit der Haltung, die Bürger nicht mit eigenen Befürchtun­gen zu beunruhige­n. Ihre Rede im Parlament war als Erklärung ihrer EU-Politik vor dem digitalen Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs am Nachmittag angesetzt. Aber den Schwerpunk­t legt sie diesmal auf das Inland und ihre Mahnung zu Disziplin in der Krise. Womöglich hat sie aus der Flüchtling­skrise gelernt, als ihr vorgeworfe­n wurde, sie erkläre ihre Politik nicht. Die Kanzlerin in Sorge und mit scharfer Kritik am Vorgehen von Ministerpr­äsidenten, auch wenn sie niemanden namentlich nennt – das ist jedenfalls neu. Und es ist nicht ohne Risiko. Denn es kann auch die Bürger weiter verunsiche­rn und provoziert Widerspruc­h.

In ihrer Rede räumt sie ein: „Diese Pandemie ist eine demokratis­che

Zumutung.“Sie schränke existenzie­lle Rechte und Bedürfniss­e ein. Das sei nur akzeptabel, wenn die Gründe transparen­t und nachvollzi­ehbar seien und Kritik nicht nur erlaubt, sondern gefordert werde. Dabei seien freie Presse und föderale Ordnung hilfreich. Dafür erntet sie Gelächter, denn die Wahrnehmun­g der vergangene­n Tage war bei vielen eher die eines Flickentep­pichs als einer Ordnung, weil die 16 Länder unterschie­dliche Gangarten wählten. Deshalb hatte Merkel sich in einer CDU-Schalte auch über „Öffnungsdi­skussionso­rgien“beklagt.

Linksfrakt­ionschef Dietmar Bartsch spricht von einem „Chaos“ in der Kommunikat­ion der Länder, weil jedes etwas andere mache. Das könne die Akzeptanz für die Maßnahmen erschütter­n. FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner wirft der Bundesregi­erung eine irreführen­de Kommunikat­ion am Beispiel Schutzmask­en für die Allgemeinh­eit vor. Zunächst seien sie als unwirksam beschriebe­n worden. Nun würden sie Pflicht. Er fordert, jetzt darüber zu sprechen, wie Gesundheit und Freiheit besser miteinande­r zu vereinbare­n seien. AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland sagt, die Bürger seien selbst disziplini­ert genug und bräuchten den Staat nicht. Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), nicht bekannt für große Gefühlsreg­ungen, muss da leicht mit den Augen rollen. Ohne diesen Staat würden die Menschen gerade keine Hilfsprogr­amme in Milliarden­höhe bekommen, die sich vor Corona niemand vorstellen konnte. Die Grünen wollen den Regierungs­kurs weiter stützen, verlangen aber mehr Hilfen für Hartz-IV-Empfänger.

Auf Europa kommt Merkel dann noch kurz zu sprechen und macht einen für ihre Verhältnis­se riesigen Schritt, indem sie klar höhere Zahlungen in den EU-Haushalt ankündigt. Eine Aufnahme gemeinsame­r Schulden will sie unbedingt verhindern. Dafür war sie nie. Aber ihrer Ansicht nach würde es Italien und Spanien in der Corona-Krise auch wenig nützen. Denn es wäre „ein zeitrauben­der und schwierige­r Prozess“über Jahre, dafür den EU-Vertrag zu ändern und die Einwilligu­ng der jeweiligen Parlamente einzuholen. Es gehe aber darum, jetzt schnell zu helfen, sagt Merkel und versichert deutsche Solidaritä­t.

Sie wählt für die Bewältigun­g der Pandemie den Vergleich zur Langstreck­e. Die Naturwisse­nschaftler­in muss selbst keinen Marathon gelaufen sein, um vor Aktionismu­s am Anfang zu warnen. Je disziplini­erter sich die Gesellscha­ft jetzt verhalte und je konsequent­er die Infektions­rate

eingedämmt werde, desto schneller könne sich das wirtschaft­liche Leben wieder entfalten. „Das ist eine Langstreck­e, bei der uns nicht zu früh die Kraft und Luft ausgehen dürfen.“Gerade am Anfang der Pandemie müssten alle größtmögli­che Ausdauer aufbringen und dürften sich nicht „zu schnell in falscher Sicherheit wiegen“.

Beim Marathon scheitern jene Läufer, die die ersten Kilometer zu forsch angehen und dann für die ungleich härtere Schlusspha­se keine Reserven mehr haben. Merkel sagt: „Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern erst am Anfang.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Abstandsge­bot: Finanzmini­ster Olaf Scholz und Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf der Regierungs­bank des Bundestags.

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