Die Gesundheit der Menschen geht vor
Die deutschen Bischöfe beraten am Montag über die Folgen der Corona-Krise. Ein Thema werden dabei auch die Gottesdienste sein.
Eine Gottesstrafe ist die Corona-Pandemie nicht. Es gibt christlich verstanden keinen Rachegott. Das ist Konsens unter den Kirchenleuten. Aber Fragen bleiben doch offen für die Theologen. Wie sind die Krisenwochen theologisch zu deuten? Da gibt es bislang nur erste Antwortversuche. Sie haben gemeinsam, dass der weltweite Lockdown den Entgrenzungen des globalisierten, überhitzten Lebens ein jähes Ende setzte und somit auch eine global kulturkritische Dimension hat. Bisweilen gilt die Umkehr von einer fehlgeleiteten Globalisierung, von einem fragwürdigen Freiheitsverständnis oder einem Defizit an Sensibilität für die globale Ressourcenverschwendung als der Inhalt einer Lektion, die in Gestalt der Pandemie einer Menschheit zugemutet wird. Einer Menschheit, die ihre Kontingenz vergessen hat und sich übernimmt.
Immerhin gibt es die Erwartung, dass die Krise dauerhaft zu mehr Nähe, Hilfsbereitschaft und Verbundenheit unter den Menschen beitragen wird. Das hohe Ausmaß an Rücksichtnahme, Verantwortung und Hilfsbereitschaft soll auch nach der Krise als zivilisatorische Neuausrichtung fortleben. Die alte Welt der Überforderung und Hetze komme nicht mehr zurück, hofft man. Videokonferenzen und Mobilitätsverzicht – Symbole gegenwärtiger Entschleunigung – wären dann bleibende Erkennungszeichen der Zukunft.
Was aber sind typische Merkmale der Pandemiezeit? Ins Auge springt eines: Menschen leben kollektiv mit einem ungeheuren Nichtwissen. Der individuelle und kollektive Verlauf der Krankheit ist ungewiss – schon, ob man persönlich krank wird oder gesund bleibt, ist unklar. Wie lang wird alles dauern? Wann kommen Medikamente oder gar die Impfung? Welche Abstandsregeln sind richtig? Welche Lockerungen? So viele Virologen
und Fachleute und Politiker haben dazu verschiedene Argumente und Meinungen. Das ist Kontingenzerfahrung: Die Erkenntnismöglichkeiten sind limitiert. Man weiß vieles nicht – was verunsichert und Angst macht. Hinzu kommt, dass man nicht weiß, wem man glauben soll und wem man vertrauen darf – Kernthemen der Religion, die einem stabilen Leben mitten in Ungewissheit und Wagnis helfen möchte.
Gelingt es denn der Kirche, in der Krise den Menschen nahe zu sein und ihnen aus dem Glauben heraus Hilfe und Orientierung zu geben? Priester und Pastorinnen, Seelsorgerinnen und Seelsorger sollen und wollen die Kranken und besonders die Sterbenden trösten und ermutigen und ihnen Hoffnung vermitteln. Die letzten Wochen um Ostern herum waren schmerzlich. Lebens- und Gesundheitsschutz einerseits und Grund- und Freiheitsrechte andererseits stehen in Spannung zueinander. Der Gesundheitsschutz zog der Religionsfreiheit – einem hohen Verfassungsgut – enge Grenzen, wie auch anderen Grundrechten. Öffentliche Gottesdienste waren verboten. Oder die Kirchen hatten freiwillig auf sie verzichtet. Weshalb? Natürlich, um die Weiterverbreitung des Virus in ihrem Bereich aufzuhalten. Blickt man genauer hin: um die eigene Identität zu bewahren. Denn eine Kirche, die Leben
und Gesundheit gefährdet, verrät ihre eigene Mission.
Wie alle Freiheit ist auch die Freiheit des Glaubens an Verantwortung gebunden. Eine Freiheit losgelöst von ihrem Inhalt – der Förderung menschlicher Freiheit – hat sich selbst aufgegeben. Deshalb reicht es auch nicht aus, von der „Systemrelevanz“der Kirchen zu reden und ihretwegen Gottesdienstmöglichkeiten zu verlangen. Natürlich gibt es eine Relevanz des Glaubens für das System menschlichen Zusammenlebens. Im Wesentlichen geht es um Identität: Kirchen stimmen mit sich selbst überein und sind glaubwürdig, wenn sie ihre Aktivitäten stark (auch) am Lebens- und Gesundheitsschutz
orientieren. Auch bei den fortbestehenden Auflagen für das gottesdienstliche Leben ist wiederum beides im Spiel: Freiheit und Wahrnehmung von Verantwortung der Gläubigen und ihrer Kirchen.
Es gibt weitere Identitätsfragen im religiösen Bereich. Ganz zentral die nach der religiösen Praxis in Zeiten der begründeten Unmöglichkeit öffentlicher Gottesdienste. Bistümer und Landeskirchen, Dekanate und Gemeinden und viele andere kirchliche Akteure haben ein eindrucksvolles Angebot an Hilfen für den Hausgottesdienst und das häusliche, gemeinsame und private Gebet erarbeitet. Dies ist eine Errungenschaft, die hoffentlich nicht verloren geht. Damit einher geht die Stärkung und Wiederbelebung des Familien- und Privatgebets. Sie befördern eine neue spirituelle Kompetenz und bereiten einfach Freude.
Das ist einerseits eine Stärkung der christlichen Identität. Muss es aber nicht in allem sein. Wenn vereinzelt im katholischen und im evangelischen Bereich suggeriert wird, die familiäre Gottesdienstfeier könne, wenn sie das Brechen von Brot und Teilen von Saft oder Wein einschließt, in die Nähe einer Abendmahlsfeier oder nichtsakramentaler Eucharistiefeier gerückt werden oder auch als Privatmesse ohne ordinierte Person betrachtet werden, dann sind Kernaussagen der Theologie betroffen: die katholische Sakramentsund Amtslehre und das Abendmahlsverständnis zumindest von Teilen der evangelischen Kirche. Klärungsbedarf kommt auf.
Es gibt hier noch eine zusätzliche, katholische Variante. In ihr geht es um nicht weniger als die Kirchenreform des 2. Vatikanischen Konzils. Manche wollen in der Zelebration „ohne Volk“– wenn ein Bischof oder Priester in einer leeren Kirche die Messe feiert – einen Rückfall in dunkle Zeiten der Klerusfixierung
ausmachen. Ohne die Laien als Menschen, die infolge der Taufe auch am priesterlichen Tun Anteil haben, gehe es nicht. Dem wird das theologische Argument entgegengehalten, dass die Messe – auch bei physischer Abwesenheit von Gläubigen – immer von der Kirche als ganzer und damit nie im strengen Sinn „privat“gefeiert wird. Ein Theologenstreit vielleicht, aber auch eine Frage der Vermittlung von Traditionsverbundenheit und Situationsgerechtigkeit – vielleicht der Identitätswahrung.
Große Themen des Glaubens sind mit ungewohnter Deutlichkeit öffentlich präsent: Vertrauen, Zuversicht, die Überwindung von Angst, Zusammenstehen und Solidarität auf vielen Gebieten. Menschen erwarten sich Antworten der Kirchen, das ist zu spüren. Liegt darin eine Chance für sie? Die Chance, ihren Glauben an Gott zu plausibilisieren und ihn Menschen zu erschließen? Das wäre eine wunderbare Perspektive.