Schmerzmediziner schlagen Alarm
Viele Kliniken haben ihre Therapieabteilungen geschlossen, in denen ambulante Patienten betreut werden. Das sorgt bei den Betroffenen für Unmut. Denn viele chronisch Kranke sind angewiesen auf regelmäßige Behandlungen.
VON JÖRG ISRINGHAUS
DÜSSELDORF Obwohl sie nicht mit dem Coronavirus infiziert ist, bringt die derzeitige Gesundheitskrise Beate Köhler (Name geändert) an ihre Grenzen. Die 41-Jährige leidet an schwerem Asthma und Muskelschwäche, hatte mehrere Wirbelbrüche und vor zweieinhalb Jahren einen Schlaganfall. Seither ist sie die meiste Zeit des Tages auf einen Rollstuhl angewiesen, braucht Hilfe bei der Körperhygiene und regelmäßige Physiotherapie. Doch die Reha-Klinik, in der sie im Schwimmbecken ihre Muskulatur trainiert, hat den Zutritt für Patienten von außerhalb ausgesetzt. „Ohne das Schwimmen aber komme ich gar nicht mehr aus dem Rollstuhl“, sagt Köhler. „Ambulante Fälle wie ich werden alleine gelassen.“
Tatsächlich haben stark eingeschränkte und chronisch kranke Menschen momentan vielerorts große Probleme, was die therapeutische Betreuung angeht. Zwar gilt bei der ärztlichen Versorgung die medizinische Notwendigkeit als Kriterium, erklärt Jürgen Querbach, Geschäftsführer des NRW-Landesverbands für Physiotherapie, die Reha-Einrichtungen dürften aber weiter selbst darüber entscheiden, wie sie mit ambulanten Patienten umgehen. „Dies soll mit Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein geschehen“, sagt Querbach, „dennoch stehen alle Beteiligten, sowohl Therapeuten als auch Patienten, dadurch im Regen.“Einerseits sei es verständlich, dass die Kliniken auch zu ihrer eigenen Sicherheit abwägen müssten, andererseits gebe es kranke Menschen, die dadurch nicht versorgt würden. Querbach: „Das ist ein ethisches Dilemma, das gerade schwer aufzulösen ist.“
Zumal Köhler ihrer Klinik versichert hat, dass sie höchste Hygienestandards einhält. So bringt sie ihr eigenes Desinfektionsmittel mit und trägt eine Atemschutzmaske mit FFP-2-Standard, die für den Einsatz auf Intensivstationen geeignet ist. „Für mich gilt nicht erst seit der Corona-Krise größte Vorsicht beim Kontakt mit der Außenwelt“, sagt Köhler, „denn jede Lungenentzündung kann für mich potenziell tödlich enden.“Die Klinik aber wollte kein Risiko eingehen. Auch für ihre Schmerztherapie wurde der ärztliche Besuch auf Videosprechstunde umgestellt. Aus Köhlers Sicht ein Ärgernis. „Ambulante Patienten dürfen doch nicht schlechter gestellt werden als stationäre“, sagt sie.
Wolfgang Straßmeier, Geschäftsführer des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin (BVSD), bestätigt die Entwicklung. „Gut 75 Prozent aller stationären schmerzmedizinischen Einrichtungen sind bundesweit geschlossen worden“, sagt Straßmeier. Diese Patienten würden nun im ambulanten Bereich aufschlagen. Viele davon leiden auch unter psychischen Problemen, Angststörungen etwa, die durch die Corona-Krise noch verstärkt werden. Dies müsse zusätzlich aufgefangen werden. Für die niedergelassenen Ärzte sei das eine kaum zu bewältigende Aufgabe. „Vorher war die Lage schon schlecht, jetzt ist sie noch schlechter“, sagt Straßmeier. Betroffen seien grob geschätzt 4000 bis 7000 Patienten, die nun zusätzlich in den Praxen versorgt werden müssten. Deshalb fordere der BVSD laut Straßmeier, dass Schmerzpatienten nicht nur per Video, sondern auch per Telefon betreut werden dürfen. „Das wäre schon eine große Erleichterung.“
Generell schwierig ist auch die Situation bei den Physiotherapeuten. Zwar seien die Praxen größtenteils offen, sagt Landesverbands-Geschäftsführer Querbach, würden aber vielerorts einen Patienten-Rückgang von 70 bis 80 Prozent verzeichnen. Dazu komme das Problem mit der fehlenden Schutzausrüstung. „Wir versuchen, den Praxen so gut wie möglich zu helfen und sie über Direktimporte mit medizinischen Artikeln zu versorgen“, sagt Querbach. So seien etwa mehrere 100.000 Schutzmasken geordert. Geplant werden müsse auch für die Zeit nach der Krise. Denn dann würden die Krankenhäuser viele ehemalige Covid-19-Patienten entlassen, deren Lungen möglicherweise geschädigt seien und die physiotherapeutische Hilfe benötigten. „Darauf müssen wir uns einstellen“, sagt Querbach, „und dafür sorgen, dass die Epidemie dann nicht wieder aufflackert.“
Beate Köhler hat vorerst eine Physiotherapeutin gefunden, die sie zu Hause betreut. Das sei aber nur eine Minimaltherapie. Ihre große Sorge ist, dass dieser Zustand über Monate anhält. Denn dann, fürchtet sie, wird sie wohl gar nicht mehr auf den Rollstuhl verzichten können.