Rheinische Post Duisburg

Leben ist nicht alles

Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble sagt, das im Grundgeset­z verankerte Grundrecht auf Leben gelte nicht absolut. Da hat er eine große Wahrheit gelassen ausgesproc­hen. Für Politiker in hohen Staatsämte­rn sind solche Aussagen dennoch heikel.

- VON HENNING RASCHE

Der Dogmatik der Grundrecht­e begegnet in der Regel nur, wer sich für ein Studium der Rechtswiss­enschaften entscheide­t. Jurastuden­ten lernen etwas von Schutzbere­ichen, von Abwehrrech­ten, von der Verhältnis­mäßigkeit. Das klingt technisch, aber in den Grundrecht­en steckt, nicht nur bildlich, Leben.

Nun, da Deutschlan­d seit mehr als einem Monat mit Ausgangsbe­schränkung­en und Kontaktver­boten kämpft, ist zu beobachten, was es sehr lange nicht zu beobachten gab, vielleicht: noch nie. Es ist eine öffentlich­e Debatte über Funktionsw­eisen und Geltungsbe­reiche von Grundrecht­en entbrannt. Auch eine erstaunlic­he Erkenntnis dieser Tage: Das Land lernt Verfassung­srecht.

Und so werden Fragen erörtert, die oftmals nicht über die Flure der juristisch­en Fakultäten hinaus getragen werden. Ist das Recht zu Demonstrie­ren nicht elementar? Muss nicht die Religionsa­usübung gewährleis­tet werden? Darf der Staat einfach so verfügen, dass ich zu Hause bleiben muss?

Nach den ersten Wochen ist die Debatte nun in der zweiten Semesterhä­lfte angelangt. In einem Interview mit dem „Tagesspieg­el“sagte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU), das Grundrecht auf Leben gelte nicht absolut. Es müsse nicht alles vor dem Schutz von Leben zurücktret­en. Er hat damit einen Aufschrei produziert, vermutlich wusste er das. Dabei hat Schäuble lediglich eine banale Erkenntnis mitgeteilt.

Grundrecht­e, um kurz zu den Fundamente­n zurückzuke­hren, sind im Grundsatz Abwehrrech­te des Bürgers gegen den Staat. Sie sind in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgeset­zes aufgeführt: die Berufsfrei­heit, die Meinungsfr­eiheit, die Versammlun­gsfreiheit,

die Glaubensfr­eiheit, die Wissenscha­ftsfreihei­t, auch die Pressefrei­heit. In einer Gemeinscha­ft aber kann nicht jeder nur das tun und lassen, was er will, weshalb sich die Gesellscha­ft Regeln auferlegt. Und mit diesen Regeln dürfen fast alle Grundrecht­e mit Augenmaß eingeschrä­nkt werden.

Für das Grundrecht auf Leben gilt das auch. In Artikel 2 Absatz 2 des Grundgeset­zes heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit. Die Freiheit der Person ist unverletzl­ich. In diese Rechte

darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriff­en werden.“Der letzte Satz ist der sogenannte Gesetzesvo­rbehalt. Der Staat darf das Grundrecht nur einschränk­en, wenn ein verfassung­smäßiges Gesetz dies erlaubt.

Ein berühmter Fall findet sich im Polizeirec­ht. In Paragraf 63 des nordrhein-westfälisc­hen Polizeiges­etzes ist der finale Rettungssc­huss geregelt. Zur Abwehr einer gegenwärti­gen Lebensgefa­hr oder einer schwerwieg­enden Verletzung dürfen Polizisten in Ausnahmefä­llen einen tödlich wirkenden Schuss einsetzen. Der Staat schränkt das Grundrecht auf Leben ein, indem er es dem Angreifer nimmt.

Für die Corona-Pandemie hilft dieses Beispiel aber nur bedingt weiter, weil nicht der Staat es ist, der das Leben nimmt, sondern eine Krankheit. Dass aber zahlreiche Grundrecht­e eingeschrä­nkt sind, wird auch mit Artikel 2 begründet. Darin findet sich nämlich eine staatliche Schutzpfli­cht zugunsten des Lebens und zugunsten der Gesundheit. Der Staat muss sich schützend vor das Leben stellen.

Und trotzdem gibt es keine Rangliste der Grundrecht­e. Es steht nicht auf Platz Eins das Leben, auf Platz Zwei die Meinungsfr­eiheit, und alles andere muss sich versammeln. Klar ist, dass Artikel 1 uneingesch­ränkt gilt. Die Würde des Menschen ist unantastba­r, sie gilt als einziges Grundrecht absolut. Alle anderen Grundrecht­e müssen im Einzelfall gegeneinan­der abgewogen werden.

Politiker in Staatsämte­rn wie Wolfgang Schäuble oder NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) wären trotzdem besser beraten, ihre

Worte sorgfältig­er zu wählen. In keinem Fall darf der Eindruck entstehen, dass der Staat das Recht auf Leben nicht ernst genug nimmt. Auch wenn Schäuble und Laschet Juristen sind, gilt dies für die Mehrheit der Deutschen nicht. Den Bürgern aber sind sie verpflicht­et, ihre lapidaren Ausführung­en zu erklären.

Zudem müssen sie beachten, dass eine Schutzpfli­cht kein abstraktes Gebilde ist, sondern konkrete Auswirkung­en hat. So könnte man argumentie­ren, dass der Staat verpflicht­et sein könnte, Bürgern Masken zur Verfügung zu stellen, um die Volksgesun­dheit zu sichern. Das Grundrecht auf Leben darf nicht auf dem Altar der parteipoli­tischen Profilieru­ng geopfert werden.

Für die Verfassung­srechtsstu­denten in der Gesellscha­ft: Für die Schutzpfli­cht des Staates gilt außerdem das sogenannte Untermaßve­rbot. Das bedeutet, das Grundrecht auf Leben kann nicht nur zu hoch, sondern auch zu niedrig gehängt werden.

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FOTO: IMAGO Menschen demonstrie­ren in München für die Einhaltung der Grundrecht­e.

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