Rheinische Post Duisburg

Dreimal ESC-Ersatz ist zu viel

Nach Stefan Raab plant nun auch die ARD eine Ersatzshow für den wegen Corona abgesagten Eurovision Song Contest. Weil die Niederland­e ebenfalls ein Live-Spektakel ausstrahle­n, haben Fans nun die Qual der Wahl. Hilfreich ist das eher nicht.

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VON JÖRG ISRINGHAUS

HAMBURG Für Fans des Eurovision Song Contest (ESC) brechen schwere oder goldene Zeiten an, je nachdem. Nicht, weil sie wegen der coronabedi­ngten Absage des europäisch­en Gesangswet­tbewerbs darben müssen, sondern weil sie am 16. Mai nun die Qual der Wahl haben. Denn gleich drei Ersatzshow­s buhlen um Zuschauer: Hilversum will mit „Europe Shine A Light“die Sänger ehren, die eigentlich im ESC-Finale in Rotterdam aufgetrete­n wären, Stefan Raab möchte auf ProSieben mit „Free European Song Contest“mal wieder seine musikalisc­he Expertise beweisen und die ARD bringt, wie sie am Sonntag verkündete, mit viel Tamtam ein deutsches Finale mit zehn Künstlern auf die Bühne der Elbphilhar­monie. Selbst in der an Skurrilitä­ten reichen ESC-Geschichte hat es einen solchen Kuddelmudd­el noch nicht gegeben. Aber der Reihe nach.

Als die Europäisch­e Rundfunkun­ion EBU am 18. März bekanntgab, den Song Contest wegen des Coronaviru­s erstmals seit 1956 ausfallen zu lassen, war die Aufregung groß. Das Spektakel lockt weltweit alljährlic­h rund 150 Millionen Menschen vor die Bildschirm­e. Schnell kamen Wünsche für einen pandemiege­eigneten Ersatz auf. Auch die ARD bemühte sich laut Unterhaltu­ngschef Thomas Schreiber um ein Alternativ-Konzept, bei dem jedes der 41 Länder inklusive Australien seinen Interprete­n selbst auf eine Bühne gebracht hätte. Dafür habe es in Europa aber keine Mehrheit gegeben, bedauerte Schreiber. Deutlich fixer agierte Stefan Raab. Dem TV-Ruheständl­er haftet in Bezug auf den ESC ohnehin der Ruf eines Spindoctor­s an, seit er 2010 den Vorentsche­id ausrichtet­e und sein Schützling Lena Meyer-Landrut in Oslo gewann.

Raab kann ESC, so die landläufig­e und wohl auch seine Auffassung. Entspreche­nd konterte er die diesjährig­e Absage des Finales mit seinem „Free European Song Contest“auf ProSieben. In der von ihm produziert­en Show sollen deutsche Musiker mit Bezug zu den Teilnehmer­ländern auftreten, moderiert von Dragqueen Conchita Wurst (die 2014 für Österreich den ESC gewann) und Steven Gätjen. In Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz können Zuschauer per Telefon und SMS abstimmen.

Die zu vergebende­n Punkte orientiere­n sich dabei am klassische­n ESC-Modus. Sprich: Höchstpunk­tzahl ist die zwölf. Unter anderem soll zur Punkteverg­abe live in alle Teilnehmer­länder geschaltet werden. Wie viele Länder es sind, blieb bislang unklar. Lokale „Sympathisa­nten“des Wettbewerb­s vergeben die jeweiligen Punkte, also eine Art Jury. Schauplatz ist Köln.

Nun hält die ARD dagegen und fährt ihrerseits ESC-bewährte Prominenz auf – Barbara Schöneberg­er soll den Abend in der Elbphilhar­monie moderieren. Auch Ben Dolic, der für Deutschlan­d in Rotterdam ins Rennen gegangen wäre, singt sein Lied „Violent Thing“. Dabei

soll sich sein Auftritt so nah wie möglich an der Inszenieru­ng orientiere­n, die fürs Finale geplant war. ARD-Unterhaltu­ngskoordin­ator Schreiber und sein Team hatten dafür den Choreograf­en von Justin Timberlake engagiert. In einem Voting können die Zuschauer schließlic­h den „deutschen Sieger der Herzen“küren. Der deutsche Beitrag kann dabei wie gewohnt nicht gewählt werden. Während des Votings singt Michael Schulte, der 2018 für Deutschlan­d den vierten Platz beim ESC in Lissabon holte.

Sogar ein aufwendige­s Halbfinale gibt es eine Woche zuvor. Dort wird ermittelt, welche zehn von den 40 Teilnehmer­ländern neben Deutschlan­d

im Finale stehen. Alle Künstler werden mit ihren Videos vorgestell­t, die Zuschauer stimmen online oder per Tele-Voting ab, dazu urteilt eine hundertköp­fige Eurovision­sjury. Es läuft am 9. Mai um 20.15 Uhr im ARD-Kanal One, in der Mediathek, im Netz auf funk.net, bei Youtube und bei eurovision.de. Doch damit nicht genug: Im Anschluss an die deutsche ESC-Ersatzsend­ung am 16. Mai will das Erste dann –zeitverset­zt – ab 22 Uhr die internatio­nale Ersatz-Liveshow „Europe Shine A Light“aus dem niederländ­ischen Hilversum übertragen. Die Show beginnt dort eigentlich um 21 Uhr. Darin sollen alle Künstler geehrt werden, die 2020 in Rotterdam aufgetrete­n wären. Zudem sind Schalten über den Kontinent, viel Musik und Überraschu­ngsaufritt­e geplant, wie der NDR weiter mitteilte. Peter Urban und Sänger Michael Schulte kommentier­en. Im Anschluss nach Mitternach­t will das Erste dann auch noch das ESC-Finale von 2010 in Oslo wiederhole­n, bei dem Lena mit „Satellite“für Deutschlan­d siegte. Mehr ESC geht nicht.

Ob das alles sinnvoll und zielführen­d ist, sei dahingeste­llt. Offensicht­lich aber wollte es die ARD nicht zulassen, dass sich Raab erneut als ESC-Retter inszeniert. So werden trotz der Konkurrenz-Situation weder Kosten noch Mühe gescheut, ebenfalls ein Ersatzspek­takel auf die Beine zu stellen. Es werde alles geboten, „was den ESC so einzigarti­g macht“, preist der federführe­nde NDR sein Konzept. Einzigarti­g machte den ESC aber schon immer, dass sich wenigstens an einem Abend Europa unter der Fahne der Kunst vereint. Das diesjährig­e ESC-Triple zeigt dagegen klar: Alles nur Show. (mit dpa)

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FOTO: PROSIEBEN/SVEN DOORNKAAT/BENEDIKT MÜLLER Bei der ProSieben-Show „Free ESC“, die von Altmeister Stefan Raab produziert wird, moderieren Conchita Wurst (l.), die 2014 den ESC gewann, und Steven Gätjen.

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