„Eine Welle der unbehandelten Notfälle“
Krankenhäuser und Mediziner beobachten derzeit einen beunruhigenden Trend. Während der Corona-Pandemie scheuen viele Patienten auch mit schwerwiegenden Krankheitssymptomen den Besuch beim Arzt oder im Krankenhaus.
MOERS Das kann auch Dr. Ralf Engels, Vorstand der Stiftung Krankenhaus Bethanien, bestätigen: „Wir vernehmen eine allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung. Die Menschen meiden die Krankenhäuser, zum Teil aus Angst vor einer möglichen Infektion mit dem Virus oder auch aus falsch verstandener Rücksicht auf das Gesundheitssystem.“Auch der Hashtag #stayhome verleite Menschen mit anderen Beschwerden offenbar dazu, auf den Besuch eines Arztes zu verzichten.
Die Angst sei nachvollziehbar aber unbegründet. „Wir haben uns schon früh Gedanken gemacht und im Prinzip einen zweiten Klinikbetrieb im Krankenhaus eingerichtet. So werden Corona-Patienten strikt von anderen Patienten isoliert.“Dank der gut geplanten Infrastruktur, zum Beispiel mit dem Screening-Zelt und separaten Eingang sowie dem personellen Konzept – Corona-Patienten werden von einem eigenen Team betreut, das keinen Kontakt zu anderen Patienten hat – sei bis jetzt weder durch Personal noch durch Patienten eine Übertragung durch Covid-19 bekannt. Im Krankenhaus Bethanien gibt es sogar einen Kreisssaal, der an Corona erkrankten Schwangeren vorbehalten sei. „Bisher war dieser aber noch nicht im Einsatz“, so Dr. Peter Tönnies, stellvertretender Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe. In der Klinik durften trotz des Besuchsverbots Väter zu jedem Zeitpunkt mit in den Kreißsaal. Weil die Lebenspartner den selben Infektionsstatus teilen, werden sie unter den selben Hygienemaßnahmen behandelt.
„Bei uns befinden sich durchschnittlich vier bis zehn Corona-Patienten auf der Isolierstation“, berichtet Dr. Christoph Chylarecki, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der
Unfallchirurgie. Diese Zahl sei seit Beginn der Corona-Pandemie stabil. Mehr Sorgen würden ihm die Patienten bereiten, die zu Hause bleiben. „Am Wochenende rief mich ein besorgter Mann aus Moers an. Sein Sohn hatte sich verletzt und ein stark geschwollenes Knie. Er fragte, ob er denn derzeit überhaupt ins Krankenhaus kommen darf“, berichtet Chylarecki. Er konnte den Mann beruhigen, so dass dieser mit dem Kind ins Krankenhaus kam. Die Ärzte stellten eine schwerwiegende Verletzung im Kniebereich fest, eine Operation war dringed nötig.
Weniger glimpflich hingegen ist der Fall einer 70-jährigen Frau ausgegangen. „Die Patientin hatte einen schweren Bruch im Schultergelenk, aber zwei Wochen gewartet, bis sie zu uns kam. Wir konnten ihr nur noch mit einem künstlichen Schultergelenk helfen. Wäre sie früher gekommen, hätte der Bruch heilen können.“
Deutschlandweit werden derzeit deutlich weniger Diagnosen wie Schlaganfallverdacht oder Herzinfarkt gestellt. „Wenn die Patienten weiterhin aus Angst den Arzt- oder Krankenhausbesuch meiden, droht
uns eine Bugwelle der nicht behandelten Notfälle“, befürchtet Prof. Dr. Stefan Möhlenkamp, Chefarzt der Kardiologie am Krankenhaus Bethanien. Ein gleichzeitiges Aufkommen vieler solcher verschleppten Notfälle könnte zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen, die im Zuge der Corona-Pandemie befürchtet wurde, aktuell aber aber gar nicht vorliegt.
Auch das ambulante Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) verzeichnete im Monat April einen Patientenrückgang von 30 bis 50 Prozent, wie Dr. Petra Hinsenkamp,
Chirurgin im MVZ, berichtet. Dabei seien alle Praxen offen, das Personal ist entsprechend geschult.
Den ersten Tag der weiteren Lockerungen in der Corona-Pandemie sieht Professor Möhlenkamp als richtigen Zeitpunkt, an die Menschen zu appellieren: „Wenn Sie Beschwerden haben, suchen Sie Ihren Hausarzt auf oder kommen Sie ins Krankenhaus!“Wichtig hierbei sei es jedoch, dass man vorher anruft und bei dem Besuch die Sicherheitsvorkehrungen wie zum Beispiel das Tragen einer Maske und die Abstandsregeln einhält.