Rheinische Post Duisburg

Befreit in die Zukunft

75 Jahre nach dem 8. Mai 1945 verblasst das Verständni­s, was das Datum eigentlich bedeutet. Geschichts­klitterung greift Raum. Für die Einordnung der Zäsur Corona, die wir gerade erleben, ist ein Blick auf das Kriegsende hilfreich – er rückt die Maßstäbe z

- VON MORITZ DÖBLER

Heute vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende. In vielen Orten waren die Alliierten bereits einmarschi­ert, aber der 8. Mai 1945 besiegelte die Niederlage des NS-Regimes. Das „Tausendjäh­rige Reich“war zusammenge­brochen, das Land lag in Trümmern. Der konservati­ve Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker etablierte in seiner historisch­en Rede vor nun 35 Jahren die Deutung vom 8. Mai als Tag der Befreiung, die bis dahin eher im linken Spektrum daheim war.

Natürlich hatte er recht – das Kriegsende markierte eine Befreiung von Unrecht und Barbarei. Doch hat der Begriff seine Tücken, denn für die Jugendlich­en von heute bedeutet er laut einer aktuellen Umfrage mehrheitli­ch, dass ein unbescholt­enes Land von einer Verbrecher­bande befreit wurde. Dass die Nazis bei den letzten freien Wahlen 1932 auf rund ein Drittel der Stimmen kamen und sich in der Folge ein großer Teil der Deutschen ins Unrechtssy­stem verstrickt­e, bleibt bei dieser geschichts­klitternde­n Wahrnehmun­g auf der Strecke. Das Volk stand lange hinter dem Regime oder duldete es zumindest: Diese schmerzvol­le Erkenntnis muss die Erinnerung bestimmen.

Die Jugendlich­en von damals sind heute Ende 80, Anfang 90. Es rückt der Moment in den Blick, von dem an keine Zeitzeugen mehr das Geschichts­bild prägen können, ob nun Opfer, Täter oder Mitläufer. Was bleibt, sind ihre Zeugnisse, die wir bewahren müssen, und die Bilder. Trümmerlan­dschaften. Ausgemerge­lte Gestalten, die an den Zäunen der Lager ihre Befreier erwarten. Gaskammern. Leichenber­ge. Rauch, der aus Krematorie­n aufsteigt.

Je länger das Grauen in der Vergangenh­eit liegt, desto schwächer wird seine Deutungsma­cht für die Gegenwart. AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland nannte die NS-Zeit „nur einen Vogelschis­s in über 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte“. Zwar relativier­te er seinen monströsen Satz später, aber darin angelegt ist die grundsätzl­iche Umdeutung der Jahre 1933 bis 1945, der unbekümmer­te Jugendlich­e von heute folgen. Und Gauland legt nach und nennt den 8. Mai „ambivalent“, weil er auch „ein Tag der absoluten Niederlage“sei – Befreiung gesteht Gauland nur den KZ-Insassen zu. Damit fällt er hinter Weizsäcker zurück.

Die NS-Zeit bleibt ein singuläres weltgeschi­chtliches Ereignis: nicht durch den zweiten globalen Krieg, so fürchterli­ch er war, nicht durch Vertreibun­g und Not, denn das hat es vorher und auch nachher gegeben – sondern durch den Holocaust, den industriel­len Massenmord an den Juden. Und die Zahl der Toten bleibt unfassbar: Mindestens 50, nach anderen Schätzunge­n 60 bis 70 Millionen Menschen verloren in dem von Deutschlan­d entfesselt­en Krieg und in den Vernichtun­gslagern ihr Leben.

Deswegen liegt in der Einordnung der Corona-Krise als größter Herausford­erung seit Kriegsende, wie es sowohl Bundeskanz­lerin Angela Merkel als auch Vizekanzle­r Olaf Scholz formuliert haben, eine gewisse Gefahr. Einerseits trifft der Vergleich einigermaß­en zu, jedenfalls aus bundesrepu­blikanisch­er Perspektiv­e, also unter Vernachläs­sigung der Mauerjahre 1961 bis 1989. Anderersei­ts liegt aber zwischen der Bilanz der Kriegsjahr­e und der Corona-Zeit ein so enormes Gefälle, dass der Vergleich abwegig ist.

Schon der Blick auf die Trümmerfot­os – eines sehen Sie oben – zeigt den Unterschie­d. Natürlich, die aktuellen Einschränk­ungen, die gerade nach und nach zurückgeno­mmen werden, haben Menschen in wirtschaft­liche Not, soziale Härten und Konflikte getrieben. Viele haben verloren, manche gewonnen. Aber unsere Städte stehen noch, unsere Gesellscha­ftsordnung hat sich bewährt.

Der heutige 8. Mai steht auch für 75 Jahre Frieden, mithin für eine ungewöhnli­ch lange Zeit ohne Krieg, in der Deutschlan­d wieder in den Kreis der bedeutends­ten Wirtschaft­snationen aufstieg und sich ein mehr oder weniger geeintes Europa formierte. Der Wiederaufb­au nach einem Krieg bietet ökonomisch­e Chancen bis hin zu Wirtschaft­swundern – seien wir trotzdem froh, dass uns das seit 75 Jahren erspart bleibt. Es ist ein großer Fortschrit­t, wenn nicht mehr Kriege die historisch­en Zäsuren darstellen, sondern Finanzkris­en oder Pandemien. Nicht zuletzt die Erinnerung an die Jahre der Barbarei gibt uns die Verantwort­ung auf, aus den weniger fürchterli­chen Ereignisse­n das Beste zu machen. Die Pandemie zeigt, wo es hakt – jetzt geht es darum, daraus Lehren zu ziehen, im Kleinen wie im Großen, und die Verhältnis­se besser und gerechter zu gestalten.

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