„1945 siegte das freie Europa“
Für den jüdischen Autor und Publizisten ist der Tag des Kriegsendes auch eine Erinnerung an die Verantwortung, die wir tragen.
Alexander Gauland hat sich wieder einmal geäußert und den 8. Mai als einen Tag der Niederlage bezeichnet. Aber ist es nicht vielmehr eine vernichtende, ethisch-moralische Niederlage Deutschlands? SELIGMANN Das kommt drauf an: Wenn sich Herr Gauland mit den Nazis identifiziert, war es eine Niederlage. Wenn wir uns aber mit der Freiheit identifizieren, war es der Beginn eines Weges zu einer Demokratie, in der die Menschenrechte geachtet werden.
Jede Nation, so hat es der Politologe Herfried Münkler einmal gesagt, braucht einen positiven Gründungsmythos, ein „Narrativ“, auf das sich nachfolgende Generationen beziehen können. Dieser aber fehlt der Bundesrepublik. SELIGMANN Man kann sich seine Geschichte nicht aussuchen. Wir haben unsere deutsche Geschichte. Wir kommen ohne einen Mythos aus. Die Mehrheit der Deutschen hat am Ende der Weimarer Republik die Nazis geschehen lassen und keinen Widerstand gegen sie geleistet. Das Dritte Reich ist von Demokratien sowie der Sowjetunion niedergeschlagen worden. Dies hat es den freiheitlichen Kräften Deutschlands ermöglicht, allmählich eine Demokratie in unserem Land aufzubauen. Beispielsweise Theodor Heuss. Er hat 1933 für das Ermächtigungsgesetz der Nazis gestimmt. Nach dem Krieg wurde er FDP-Vorsitzender und schließlich Bundespräsident! Er hat eine Wandlung zur Freiheit durchgemacht und Deutschland mit ihm. Das ist eine beachtliche Leistung. Heute ist Deutschland ein freiheitlich-demokratischer Staat, der sogar Menschen wie Herrn Gauland aushalten kann.
Was ist aus heutiger Sicht die Schuld der Deutschen? Und wie lässt sich das mit dem Kohl-Zitat von „der Gnade der späten Geburt“verbinden?
SELIGMANN Schuld ist individuell und nicht vererbbar. Schuld sind die Personen, die Hitler bei seinen Verbrechen unterstützt haben. Wir als Nachkommen tragen keine Schuld, aber wir haben eine Verantwortung: Vergehen gegen die Menschenwürde zu verhindern. Von der „Gnade der späten Geburt“sprach zunächst Günter Gaus; da erhob sich kein Widerspruch. Der Widerspruch kam erst, als Helmut Kohl sich dieser Worte bediente – als wolle er einen Schlussstrich ziehen. Das hat Kohl so wenig gemeint wie vor ihm Gaus. Wir haben heute nur die Gnade, dass wir nicht vor so einer Entscheidung stehen müssen, ob wir Widerstand leisten, Mitläufer oder gar Täter werden.
Ist der anwachsende Rechtspopulismus ein Zeichen für mangelndes Geschichtsbewusstsein?
SELIGMANN Selbstverständlich. Regime, die sich auf einfache Lösungen spezialisieren und diese propagieren, benennen stets vermeintlich „Schuldige“: Juden, Moslems, Kapitalisten, Ausländer, Chinesen usw. Das stimmt pauschal nie.
Im Augenblick allerdings haben die Populisten – seit der Corona-Krise – deutlich an „Popularität“eingebüßt. Ist das eine Momentaufnahme oder möglicherweise der Anfang vom Ende dieser Politik? SELIGMANN Ich fürchte es ist lediglich eine Momentaufnahme. Wenn es dem Esel wieder wohl ergeht, wird er sich erneut aufs Eis wagen. Und dann wird es wieder vermeintlich einfache Lösungen geben. Dabei
haben die Populisten – sei es in Deutschland, Brasilien oder in Russland – nichts Reelles, Helfendes zu bieten. Populismus ist ein großer Schwindel. Ein Beispiel ist der
Halb-Populist Johnson in Großbritannien, der auch die Corona-Herausforderung managen wollte und am Ende knapp mit dem Leben davonkam, während das britische Gesundheitssystem versagte.
Die Corona-Krise hat Deutschland in den ersten Wochen auch einen politischen Frieden beschert. Machen Krisensituationen die Menschen möglicherweise auch staatsoder sogar obrigkeitshörig? SELIGMANN Die Menschen suchen bei Bedrohung, etwa in einer Krise nach starker Führung. Die Wissenschaftler sagen dies und das Gegenteil dessen. Wenn dann jemand kommt und entschlossen handelt, wie Ministerpräsident Söder, dann folgt man ihm lieber als anderen, die differenzierter nachdenken. Eine Seuche erzeugt Ängste. Angst aber ist kein guter Ratgeber.
Was ist die größte politische Herausforderung der derzeitigen Krise? SELIGMANN Menschlichkeit, Freiheit und Wohlstand zu bewahren. Dafür muss mit mehreren Bällen jongliert werden. Die große Herausforderung ist, Menschenleben und die Freiheit zu schützen und gleichzeitig die wirtschaftliche Basis unserer Gesellschaft zu erhalten. Dafür gibt es kein Patentrezept.
Bei der Bewältigung der Corona-Krise wird oft gesprochen von der größten Herausforderung seit 1945. Werden damit Not und Elend der Kriegsgeneration relativiert? SELIGMANN Ja. Doch wir sollten nicht vergessen, dass vor 75 Jahren in Deutschland Not und Hunger herrschten und heute weltweit Millionen Menschen an Unterernährung, Hunger, heilbaren Krankheiten sterben, während manche von uns sozusagen im Penthouse der Erde leben und jammern, dass wir einige Monate größtenteils zu Hause bleiben müssen. Bei allen Sorgen und Problemen, die wir haben: Wir klagen auf höchstem Niveau.
Braucht Deutschland einen Gedenktag zum Kriegsende? SELIGMANN Ich fände es besser, wenn es einen europäischen Gedenktag gäbe. Der 8. Mai ist für mich der Beginn der Befreiung – zumindest in Westdeutschland. Der Osten, die DDR, musste noch 40 Jahre
auf die Freiheit warten. 1945 war ein Sieg des freien Europas.
Auf Gedenktafeln für Kriegsopfer ist oft zu lesen: „Wir mahnen den Frieden“. Muss nicht Friede mehr sein als die Abwesenheit von Krieg? SELIGMANN Mit Sicherheit. Ich glaube gar, dass zur Freiheit notfalls auch Gewalt und Krieg gehören. Gegen Angriffe verbrecherischer Regime ist die Anwendung von Gewalt oft das letzte Mittel. Ich teile die Aussage Heiner Geißlers, dass der Pazifismus eine Mitverantwortung dafür trägt, dass Auschwitz möglich war. Weil die Demokratien Hitlers Verbrechen und Expansionismus nicht verhindert haben.
75 Jahre danach gibt es etliche jüdische Gemeinden hierzulande – vertreten durch den Zentralrat der Juden in Deutschland. Werden wir noch erleben, dass es der Zentralrat der deutschen Juden heißen wird? SELIGMANN Ich trete seit Langem für eine solche Namensänderung ein. Allerdings meine ich, dass dazu Vertrauensbildung auf beiden Seiten notwendig ist. Die deutschen Juden merken, die Gesellschaft lässt es nicht zu, dass wir ausgegrenzt werden. Wir sind deutsche Juden, und wenn das Vertrauen zunimmt und die Angst nachlässt, wird es sich von alleine ergeben, dass sich die Juden in Deutschland ohne Wenn und Aber als deutsche Juden fühlen und so nennen werden.
Zum Schluss bitte noch einen Satz zu fünf Personen – wie Pius XII.? SELIGMANN Seine Frömmigkeit genügte nicht, er hätte mehr Mut zur Hilfe gebraucht.
Konrad Adenauer?
SELIGMANN Ein starker, prinzipienfester Mann und eine Wohltat für Deutschland und seine Menschen.
Rabbi Löw?
SELIGMANN Eine ideale Legendenfigur.
Martin Walser?
SELIGMANN Ein guter Schriftsteller und ein eitler Mann.
Und Rafael Seligmann?
SELIGMANN Der Mensch muss sich zu helfen wissen.