Zwischen Allmacht und Ohnmacht
Nie zuvor hat die Bundesrepublik das Handeln ihrer Bürger so bestimmt wie in der Corona-Krise. Das war nötig. Doch die Demonstration der Stärke hat auch erhebliche Schwächen.
Die Stadt Jena gilt bei der Corona-Bekämpfung als vorbildlich. Transparent und präzise nennt der dortige „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“, eine Art Krisenstab, was die Verwaltung an neuen Maßnahmen beschlossen hat, welche Regelungen gelten, wie sich die Fallzahlen entwickeln. Über 500 Maßnahmen hat der Stab, der faktisch die Stadt regiert, seit Mitte Februar beschlossen. Der Stadtrat, das eigentliche Beschlussgremium, schaffe in einem solchen Zeitraum vermutlich nur 30, heißt es vielsagend in einer Videobotschaft des Jenaer Oberbürgermeisters Thomas Nitzsche (FDP).
Der Erfolg gibt dem 44-jährigen Stadtoberhaupt recht. Das 110.000 Einwohner zählende Jena gehört mit 158 Corona-Infektionen zu den Kreisen mit den geringsten Fallzahlen im Verhältnis zur Bevölkerung. Gesundheitsschutz ist Bürgerpflicht: Die Wissenschaftsund Hightech-Stadt im Osten Deutschlands hat als erste Kommune die Maskenpflicht eingeführt und setzt zur Überwachung der Regeln schon mal private Sicherheitsdienste ein. „Klar, es ist wieder wie in der DDR“, sagen ältere Bürger der Stadt. So schreibt es jedenfalls der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Dirk von Petersdorff, der in Jena einen Lehrstuhl hat, in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.
Der Staat – egal ob Bund, Land oder Kommune – zeigt seine Stärke in der Krise. In Nordrhein-Westfalen hat Münster, Universitätsstadt und Bildungshochburg wie Jena, die Einführung der Maskenpflicht vor allen anderen Kommunen angekündigt. Ein paar Tage später folgte das Land Nordrhein-Westfalen. Ein Triumph der scharfen Maßnahmen.
Die meisten Menschen haben die Beschneidung ihrer Freiheits- und Freizügigkeitsrechte durch den Ausbruch des tückischen Corona-Erregers klaglos hingenommen. „Die Menschen haben Führung erwartet und sich schon beinahe lustvoll unterworfen“, meint der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart. Und der renommierte Zeithistoriker Andreas Rödder bemerkt: „Hier durften die Politiker in nie gekanntem Ausmaß durchregieren. Die vielbeklagte Ohnmacht der Politik war plötzlich vorbei.“
Die Corona-Krise hat dem Staat ungewöhnliche, fast beängstigende Macht beschert. Ohne große Widerstände hat er die Schließung sämtlicher Schulen und Bildungseinrichtungen und der meisten Läden sowie ein Verbot aller öffentlichen und privaten Veranstaltungen durchgesetzt. Zugleich hat er mehr als eine Billion Euro als Liquiditäts-Bazooka für die Wirtschaft und andere Bereiche lockergemacht. „Es waren extreme Staatseingriffe“, findet auch Michael Hüther, der Chef des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Und fügt gleich hinzu: „Hier hat ein starker Staat in einem Notfall verantwortungsbewusst gehandelt.“
Über Wochen konnten sich Politiker als Retter und Krisenmanager profilieren. Je härter die Maßnahmen, desto größer die Zustimmung. Die große Koalition in Berlin, von vielen als Zumutung empfunden, sonnt sich seitdem in steigenden Umfragewerten. Die CDU von Kanzlerin Angela Merkel nähert sich in Umfragen der 40-Prozent-Marke, auch die SPD zeigt sich mit 15 bis 16 Prozent zumindest leicht erholt.
Doch die Allmacht der Politik hält in einem demokratischen Staat nur für kurze Zeit. So kann sich der Geschichtswissenschaftler Rödder zwar nicht des Eindrucks erwehren, dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder eine „klammheimliche Freude an der Rolle als starker Mann“empfindet. Doch seine abrupte Kehrtwende am 3. Mai vom harten Corona-Sheriff zum schnellsten Öffner zeigt, dass Söder sich auch nur im „Rahmen der öffentlichen Meinung“(Rödder) zu bewegen kann.
„Die Menschen haben Führung erwartet und
sich schon beinahe lustvoll unterworfen“
„Stark ist nur der, der im Ausnahmezustand der großen Einigkeit schnell und umsichtig handelt. Dieser Moment der Einigkeit ist immer schnell wieder vorüber“, glaubt der Historiker.
Der Rahmen der öffentlichen Meinung begründet zugleich die große Schwäche des Staates. Wenn die Stimmung, wie bei der anhaltenden Kontaktund Kaufsperre kippt, dann kann es Politikern nicht schnell genug gehen, das Ruder herumzureißen. „Bei den Öffnungen schwächelt der Staat“, meint der Staatsrechtslehrer Degenhart. „Er gibt den Lobbygruppen zu sehr nach. Die Wirtschaft wird bevorzugt. Familien mit Kindern haben das Nachsehen. Die Schulen und Kitas öffnen nur zögerlich.“
Der Ökonom Hüther sieht das natürlich anders, schon gar nicht als Gegensatz. Gleichwohl hält auch er die Exit-Strategie des angeblich so starken Staates für wenig durchdacht. „Mit der Frage ‚Wie komme ich wieder heraus?‘ hat die Politik sich eher zögerlich befasst“, meint der IW-Chef. „Sie hat drei Wochen lang nicht reagiert. Jetzt müssen wir die ökonomische Bedrohung so schnell wie möglich abwenden.“
Es scheint, als machten sich in der Politik wieder die Ohnmachtsgefühle breit. Wer der einen Gruppe eine Öffnungsperspektive gibt, muss bei anderen auch nachlegen. Und auch die Frage der Finanzierung der Corona-Maßnahmen dürfte heftige Verteilungskämpfe in Gang setzen. Je mehr die Corona-Krise erlaubt, sich wieder den Tagesfragen zuzuwenden, desto stärker nimmt die Deutungshoheit der Exekutive und der sie beratenden Wissenschaft wieder ab. Das ist ein durchaus gewollter demokratischer Prozess. Vielleicht war die Politik auf dem Höhepunkt der Krise einen Moment zu stark. Dass sie jetzt wieder in das Klein-Klein des politischen Aushandlungsprozesses zurückfällt, beruhigt zwar diejenigen, die schon einen neuen Autoritarismus chinesischer Prägung befürchteten. Trotzdem steht die neue Schwäche in einem bemerkenswerten Kontrast zur einmal erlebten Allmacht der staatlichen Stellen. Das hinterlässt ein Gefühl des Unbehagens.