Motoren der Evolution
Viren sind manchmal besser als ihr Ruf. Sie können nicht nur Krankheiten verursachen, sondern bringen auch Neues hervor.
LONDON Der englische Zoologe und Nobelpreisträger Sir Peter Medawar bezeichnete sie einst als „eine in Eiweiß verpackte schlechte Neuigkeit“. Ein bisschen Erbsubstanz in einer Proteinhülle, mehr sind die meisten Viren tatsächlich nicht. Alleine nicht fähig zur Fortpflanzung und zum eigenen Stoffwechsel, in der Größe ebenfalls ein Witz: Gerade mal ein Hundertstel von der Größe eine Bakteriums misst das Durchschnitts-Virus. Und dennoch sind sie – rein zahlenmäßig betrachtet – die erfolgreichsten Kreaturen auf dem Planeten. Experten schätzen, dass es rund 100 Millionen unterschiedliche Virustypen gibt. In den Ozeanen der Welt sind sie eine wahre Supermacht. Dort stellen sie 60 Prozent der Biomasse. Alleine 200.000 marine Virustypen sind bekannt. Wäre ein Virus so groß wie ein Sandkorn – tatsächlich ist es etwa 10.000 mal kleiner – wäre die gesamte Erdoberfläche mit einer 15 Kilometer dicken Schicht bedeckt.
Seit wann genau es Viren gibt, darüber sind sich Experten uneins. Manche Biologen vermuten, dass sie sich schon vor 3,5 Millionen Jahren entwickelten. Womöglich waren sie Vorläufer der DNA. Dies ist das Erbmolekül, das die Gene, den Bauplan eines Lebewesens speichert und weitervererbt. Vielleicht waren sie überhaupt der Grund, warum sich höheres Leben einst entwickelt hat. Soweit die wissenschaftliche Spekulation.
Sicher ist: Viren kommen heute in allen Lebenwesen vor, in Tieren, Pflanzen, Pilzen, Algen, Einzellern und Bakterien. Und: Viren brauchen zur Vermehrung und Verbreitung immer den passenden Wirt. Für die Produktion von Nachkommen müssen sie lebende Zellen ihres Ziel-Individuums entern. Dies sind bei Corona- oder Grippe- und Masernviren
Schleimhautzellen im Nasenund Rachenraum. Sie erreichen über feinste Speicheltröpfchen neue Opder. Andere Viren sind spezialisiert auf Darmzellen und werden mit dem Kot ausgeschieden. Und es gibt auch solche, die sich von tierischen Helfern wie Mücken oder Zecken transportieren lassen.
Die richtige Wirtszelle zu finden, ist ein Glücksspiel für das Virus. Die Eiweißmoleküle seiner Außenhülle funktionieren dabei wie ein Schlüssel, der das passende Schloss erkennt und aufschließt. Im Zellinnern setzt das Virus seine Erbsubstanz frei, und es beginnt eine Art feindliche Übernahme: Die Wirtszelle produziert fortan fleißig Viren-Bausteine, Erbsubstanz und
Hüllenproteine und fügt sie zu neuen Viren zusammen. In den allermeisten Fällen stirbt am Ende die Wirtszelle und entlässt tausende Nachkommen in die Umgebung. Der Kreislauf beginnt von vorne.
Viren sind also Parasiten. Sie manipulieren ihren Wirt zu ihren Gunsten. Dabei können sie sich während ihrer rasanten Vermehrung rasch verändern und neuen Gegebenheiten anpassen. Sie praktizieren Evolution im Zeitraffer. Dies setzt den Wirt unter massiven Druck. Will er nicht zugrunde gehen, muss er sich etwas einfallen lassen, um mit dem Eindringling fertig zu werden. Er muss sich ebenfalls verändern. Selektionsdruck nennen das Biologen. Kurz gesagt: Nur derjenige überlebt, der am besten gegen wechselnde Bedingungen gewappnet ist. Je besser die Mischung der Gene, umso höher ist die Chance der Anpassung. Nicht zuletzt deshalb hat die Natur die sexuelle Fortpflanzung erfunden: Die Kombination männlichen und weiblichen Erbgutes beschleunigt die genetische Vielfalt und erhöht die Überlebens-Aussichten bei wechselnden äußeren Einflüssen.
So haben Viren in ihrer langen Daseinsgeschichte die Evolution beeinflusst und beschleunigt. Sie haben es sogar geschafft, sich fest in das Erbgut fremder Zellen einzubauen. Molekulargenetiker entdeckten im menschlichen Genom (das ist die Gesamtheit aller Gene), dass acht Prozent der Erbsubstanz offenbar von Viren abstammt. Manche menschliche Gene waren ursprünglich in Bakterien, Pflanzen oder Pilzen heimisch.
Fester Bestandteil der Wirts-DNA zu sein, bringt einen entscheidenden Vorteil: Die Viren werden nicht vom Immunsystem als fremd erkannt und bekämpft. Stattdessen verdoppeln sich bei jeder Zellteilung ihre Gene einfach mit. Ein Beispiel dafür ist der AIDS-Erreger HIV. Über viele Jahre kann er im Ruhezustand unbemerkt im Menschen überdauern. Wenn sich der Gesundheitszustand des Infizierten dann eines Tages verschlechtert, können die viralen Gene jederzeit aktiv werden und beginnen die Produktion der Nachkommen. Der Untergang des
Wirtes ist aber nicht das Ziel solcher Viren. Im Gegenteil: Je gesünder ihre Umgebung, umso erfolgreicher ist ihre Strategie. Durch Mutationen können die viralen Gene sogar neue Aufgaben des Wirtes übernehmen. Ein Beispiel sind zwei Gene, die in der menschlichen Plazenta aktiv sind und ursprünglich von Viren stammen. Andere einst virale Genschnipsel produzieren heute Eiweiße, die für die Entwicklung des Embryos wichtig sind oder unterstützen das Immunsystem.
Auch wenn diese Einsicht inmitten der aktuellen Pandemie schwer fällt: Aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet, sind Viren nicht unbedingt immer schlechte Neuigkeiten.