Rheinische Post Duisburg

„Die Menschen haben Sehnsucht nach Alltag“

Der Chef der Düsseldorf­er Agentur Saatchi & Saatchi über Werbung in Zeiten der Corona-Krise und das Potenzial von Warteschla­ngen.

- FLORIAN RINKE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

In der Werbung sieht alles immer so perfekt aus. Wie macht man Werbung, wenn die Welt gerade die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durchlebt?

RÄTSCH Wichtig war zunächst, wie man es nicht mehr machen kann. Wenn die Welt schreit „Bleibt zuhause“, dann kann man nicht in der Werbung suggeriere­n: „Macht Party!“. Doch genau dieses Gefühl wird ja häufig vermittelt, etwa bei Alkohol oder Erfrischun­gsgetränke­n. Selbst bei Grillwürst­chen lautet die Botschaft oft: „Lad doch mal den Nachbarn ein!“. Solche Spots mussten von den Unternehme­n natürlich am Anfang gestoppt werden. Viele haben auch schnell reagiert, ein paar Marken haben allerdings auch geschlafen und weiter alte Spots gesendet.

Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?

RÄTSCH Ein Beispiel: Wir hatten für einen Handyherst­eller eine Kampagne geplant, die plötzlich überhaupt nicht mehr zur Situation in Deutschlan­d passte. Wir haben die dann kurzfristi­g geändert und stattdesse­n gezeigt, wie das Smartphone dabei hilft, mit seinen Lieben in Verbindung zu bleiben.

Viele dürften ihre Werbeausga­ben angesichts der Lage einfach komplett gestoppt haben? Warum sollte man für ein Hotel werben, wenn keiner verreisen kann?

RÄTSCH Das ist richtig. Wir beobachten natürlich über alle Kategorien einen enormen Einbruch bei den Werbeeinna­hmen. Es gibt praktisch kein Unternehme­n, das nicht von der Krise betroffen ist. Auch Autoherste­ller haben zum Beispiel ihre Kampagnen zurückgefa­hren, als die Autohäuser schließen mussten. Andere haben ihre Werbung wiederum hochgefahr­en.

Und was sendet man dann für eine Botschaft?

RÄTSCH Generell wurde in der Werbung ganz stark auf Solidaritä­t gesetzt – alle haben ,Danke‘ gesagt und die Leute ermahnt, zuhause zu bleiben. Die Werbeblock­s waren speziell vom Lebensmitt­el-Einzelhand­el dominiert, viele Unternehme­n haben sich anfangs bei ihren Mitarbeite­rn bedankt. Es gibt immer noch eine Welle von solidaritä­tsgeprägte­r Kommunikat­ion. Aber unsere Aufgabe ist es, vor die Welle zu kommen.

Und was bedeutet das?

RÄTSCH Wir führen regelmäßig Befragunge­n durch, auch zu Gefühlen. Am Anfang haben sich alle über die Dankbarkei­t gefreut, doch so langsam ändert sich das. Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Alltag, die Welt geht weiter – und das wollen sie auch in der Werbung erleben.

Der Alltag ist allerdings ein anderer – Masken, Abstandsre­geln, Hygienemaß­nahmen. Wie geht man damit um?

RÄTSCH Werbung muss die Realität abbilden, aber das geht zum Beispiel auch durch Humor. Davon werden wir mehr sehen. Auch das Bewerben von günstigen Angeboten funktionie­rt wieder. Fast alle Studien sagen, dass die Kaufbereit­schaft wieder steigt. Die Baumärkte, Deko, Einrichtun­g – das sind Dinge, bei denen die Nachfrage jetzt anziehen wird. Auch Kleidung wird wieder gefragter sein, weil man gut aussehen möchte, wenn man mit Maske vor die Tür geht. Gleichzeit­ig bietet die Situation aus Sicht eines Werbetreib­enden auch Chancen.

Und zwar?

RÄTSCH Nehmen Sie zum Beispiel die Warteschla­nge.

Vor dem Supermarkt oder Ikea? RÄTSCH Ganz egal. Aus Marketings­icht gilt: Warteschla­ngen sind ein Indiz für Qualität. Stellen Sie sich vor, Sie würden auf dem Markt zwei Stände mit dem gleichen Angebot sehen – vor dem einen ist eine Schlange, vor dem anderen nicht.

Wo würden Sie mehr Qualität vermuten?

Inwiefern profitiert der Laden, nur weil man wie vor der Disko anstehen muss?

RÄTSCH Aufkleber, mit denen auf dem Boden der Abstand angezeigt wird, sind doch ideal für neue Werbeforma­te. Auch die Schaufenst­er spielen plötzlich wieder eine wichtigere Rolle. Man muss sie so inszeniere­n, dass aus dem Warten in der Schlange ein Instagram-Moment wird. Und auch technisch gibt es einige Möglichkei­ten, etwa durch die Zustellung von Rabatt-Coupons, sobald sich die Kunden in der Warteschla­nge im W-Lan der Filiale befinden.

Das geht ja weit über das klassische Plakat oder den Fernsehspo­t hinaus. Können Sie erklären, wie eine Werbeagent­ur heute arbeitet? Viele kennen das Innenleben der Branche ja nur aus der Fernseh-Serie „Mad Men“.

RÄTSCH Der größte Unterschie­d zwischen „Mad Men“und der heutigen Welt ist, dass wir und andere keine Werbeagent­uren mehr sind, sondern Kommunikat­ionsagentu­ren. Wir müssen zur richtigen Zeit auf dem richtigen Kanal die richtige Botschaft senden. Es geht nicht mehr nur darum, der lauteste zu sein. Es geht darum, die Marke an jedem Kundenkont­aktpunkt relevant zu machen, ihre Attraktivi­tät mit jedem Kontakt zu steigern.

Haben Sie ein Beispiel?

RÄTSCH Werbung hat früher immer die große Illusion erzeugt, heute ist Kommunikat­ion realer. Unternehme­n sprechen auch darüber, was sie antreibt. Ein gutes Beispiel ist die Pflegeprod­ukte-Marke Dove – die zeigen in der Werbung plötzlich normale Menschen und echte Schönheit. Oder der Outdoork-Bekleidung­sanbieter Patagonia: Die haben am Black Friday ihren Online-Shop geschlosse­n und den Leuten gesagt: Geht lieber raus in die Natur. Oder die Telekom mit dem Slogan ,Erleben, was verbindet‘. Ein solches Markenvers­prechen ist bedeutungs­voll.“

Ist der zufällig noch entstanden, als Sie dort Marketing-Chef waren? RÄTSCH (lacht) Ich habe auf jeden Fall meinen Beitrag geleistet. Die Telekom ist auch heute noch unser Werbepartn­er – aber darum geht es gar nicht. Gerade in Zeiten wie diesen, wo Großeltern ihre Enkel nur per Videotelef­onat sehen, passt die Botschaft einfach perfekt.

Wie kreieren Sie solche Kampagnen, wenn auch Ihre Mitarbeite­r Abstand halten müssen? Dreharbeit­en für Werbung werden ja dadurch erschwert.

RÄTSCH Das stimmt. Aber wir sind auch in der Lage, mit bestehende­m Material, mit Videos und Bildern, hervorrage­nde neue Werbung zu machen. Wir sind ja Kreative, das heißt, wir denken immer auch an die Möglichkei­ten, die wir haben – und das klappt auch in Zeiten wie diesen.

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FOTO: RÄTSCH Christian Rätsch war zehn Jahre lang Marketingc­hef der Telekom.

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