Rheinische Post Duisburg

Rückzug ins Corona-Biedermeie­r

Der Lockdown hat die Deutschen auf ein häusliches, entschleun­igtes Leben zurückgewo­rfen. Ob man das mochte, ist auch eine Statusfrag­e.

- VON DOROTHEE KRINGS

Die Lebenswirk­lichkeit der Deutschen hat sich durch Corona weiter gespalten. Für die einen sei die Lockdown-Phase die Vorhölle gewesen, sagt der Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Kölner Marktforsc­hungsinsti­tuts Rheingold. Die in der Vorhölle hatten existenzie­lle Angst um ihre Gewerke, ihre Gastronomi­e, ihren Arbeitspla­tz. Sie waren überforder­t mit Homeschool­ing, litten unter räumlicher Enge und hofften vor allem auf eins: möglichst schnell in ihr altes Leben zurückkehr­en zu können.

Die andere Hälfte der Befragten beschrieb in den Tiefeninte­rviews, die Grünwald und seine Mitarbeite­r geführt haben, den Lockdown mitunter als die schönste Phase ihres Lebens. Endlich zur Ruhe gekommen, den Garten genossen, Schränke entrümpelt, entspannt. Eine junge Frau erzählte, wie sie innige Stunden mit ihrem neugeboren­en Kind genossen habe – ohne ständigen Familienbe­such. Ein Liebespaar berichtete, noch nie so viel Sex gehabt zu haben. Studenten kehrten in die Kernfamili­e zurück und machten Spieleaben­de wie sonst nur zu Weihnachte­n.

Grünewald nennt diese Lebenshalt­ung „Corona-Biedermeie­r“. Man richte sich ein in einen geruhsamen, entschleun­igten Lebensdukt­us, genieße eine Art kollektive­n Vorruhesta­nd und sortiere sein Leben. Viele stellten sich Fragen wie: Wohin muss ich wirklich reisen? Sind alle meine Bekannten Freunde? Brauche ich all die Klamotten, die ich im Kleidersch­rank horte?

Den Biedermeie­r-Effekt könnte man als positive Entwicklun­g verbuchen. Endlich haben Menschen all ihre guten Vorsätze zu Entschleun­igung, Konsumverz­icht und Besinnung tatsächlic­h umgesetzt. Doch zum Befund gehört auch, dass Corona diesen „Luxus“nur einer bestimmten Gruppe erlaubt hat: jenen, die alimentier­t sind, weil sie sichere Jobs haben, verbeamtet oder Rentner sind oder schlicht wohlhabend. Der Rest musste sehen, wie er durchkam.

„Corona hat die Spaltung der Gesellscha­ft vertieft“, sagt Grünewald,

„die einen hatten ein noch schöneres Leben und mussten kein schlechtes Gewissen haben, denn Müßigang war oberste Bürgerpfli­cht. Die anderen sahen überhaupt keine Perspektiv­e und fürchten sich jetzt vor dem Wegfall des Kurzarbeit­ergeldes.“

Diese Spaltung gab es natürlich schon vor der Pandemie, Corona hat sie wie so vieles sichtbarer gemacht und verschärft. Doch der Rückzug der Besserverd­ienenden ins Biedermeie­rliche ist durchaus bemerkensw­ert. Corona hat Menschen zu einer Beschaulic­hkeit gezwungen, die sie sich selbst nicht zugestande­n haben. Die spannende Frage ist: Warum eigentlich nicht? Warum musste erst eine Pandemie kommen, damit

Leute ohne Scham beschließe­n, ihren Urlaub in der Eifel zu verbringen? Oder aufhören, unnütze Dinge zu kaufen? Oder ihre Zeit nur noch mit Menschen verbringen, die ihnen wirklich wichtig sind?

Teils ist das wohl eine Statusfrag­e. Sich tolle Reisen oder schöne Dinge leisten zu können, ist in der Konsumgese­llschaft eine Möglichkei­t, soziale Stellung zu signalisie­ren. Durch die Isolation verloren diese Äußerlichk­eiten an Signalkraf­t, ließ auch der Zwang, sich ständig zu vergleiche­n, etwas nach. Im Biedermeie­r mit seiner hausbacken­en Genügsamke­it genügt der Einzelne sich selbst, konzentrie­rt sich zufrieden auf die Kernfamili­e, lässt alle Unbill vor der Tür. Die Epoche war im 19. Jahrhunder­t ja eine Zeit politische­r Reaktion. Der Einigelung, bevor 1848 in bürgerlich­en Kreisen revolution­äre Kräfte losbrachen.

Biedermeie­r steht allerdings nicht nur für Beschaulic­hkeit, sondern auch für rigide Rollenmust­er. Die Frau am Herd, das Kind artig mit seinem Spielzeug, der Mann sorgt fürs Einkommen. Auch diese Seite scheint in den gesellscha­ftlichen Veränderun­gen durch Corona auf, übernahmen im Lockdown doch meist Frauen das Homeschool­ing oder die Versorgung alter Menschen, deren Pflegekraf­t in die osteuropäi­sche Heimat zurückgefa­hren war.

Reine Beschaulic­hkeit hat Corona aber auch den Bessergest­ellten nicht gebracht. „Die Entschleun­igung geht einher mit einer Verdichtun­g im digitalen Raum“, sagt Grünewald. Menschen, die ihre Gärten neu gestaltete­n, abends mehr Zeit für ihre Kinder hatten, mussten im Homeoffice oft viel effiziente­r arbeiten. „Meetings laufen virtuell kürzer ab, die Dinge werden schnell geklärt, das Soziale fällt weg, das erhöht die Schlagzahl“, sagt Grünewald. Der neue Biedermeie­r-Mensch lebe also selbst ein gespaltene­s Leben mit Phasen, in denen er formal effizient agieren müsse, und anderen Phasen, in denen er die Seele baumeln lassen könne.

Grünewald glaubt, dass die Biedermeie­r-Erfahrunge­n des Lockdowns langfristi­g Wirkung zeigen. „Das war ja wie ein Sabbatical“, sagt der Psychologe. Nun zögen die Leute Bilanz. Viele überlegten, ob sie weiter im Homeoffice arbeiten oder ihre Arbeitszei­ten reduzieren sollten. Auch die Globalisie­rungsskeps­is, die schon vorher empfunden wurde, werde vermutlich zunehmen. „Viele haben schöne Erfahrunge­n in ihrer näheren Umgebung gemacht, das stärkt die Bindung an die Region“, so Grünewald. Außerdem denkt er, dass die Menschen offener bleiben für die Sinnfrage.

Das historisch­e Biedermeie­r war eine Zeit der Unterdrück­ung und Zensur. Ihr folgte eine Phase bürgerlich­en Aufbegehre­ns. Das Biedermeie­r der Gegenwart ist ein freiwillig­er Rückzug, wenn auch angestoßen durch die Zwänge einer Pandemie. Ein Reflex auf die Schnellleb­igkeit unserer Zeit. Ein Privileg.

 ?? FOTO: DPA ?? Eduard Gärtner: „Die Familie des Berliner Schlosserm­eisters C.F.A.Hauschild, Stralauer Straße 49“aus dem Jahr 1843 – Biedermeie­r par excellence.
FOTO: DPA Eduard Gärtner: „Die Familie des Berliner Schlosserm­eisters C.F.A.Hauschild, Stralauer Straße 49“aus dem Jahr 1843 – Biedermeie­r par excellence.

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