Rückzug ins Corona-Biedermeier
Der Lockdown hat die Deutschen auf ein häusliches, entschleunigtes Leben zurückgeworfen. Ob man das mochte, ist auch eine Statusfrage.
Die Lebenswirklichkeit der Deutschen hat sich durch Corona weiter gespalten. Für die einen sei die Lockdown-Phase die Vorhölle gewesen, sagt der Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold. Die in der Vorhölle hatten existenzielle Angst um ihre Gewerke, ihre Gastronomie, ihren Arbeitsplatz. Sie waren überfordert mit Homeschooling, litten unter räumlicher Enge und hofften vor allem auf eins: möglichst schnell in ihr altes Leben zurückkehren zu können.
Die andere Hälfte der Befragten beschrieb in den Tiefeninterviews, die Grünwald und seine Mitarbeiter geführt haben, den Lockdown mitunter als die schönste Phase ihres Lebens. Endlich zur Ruhe gekommen, den Garten genossen, Schränke entrümpelt, entspannt. Eine junge Frau erzählte, wie sie innige Stunden mit ihrem neugeborenen Kind genossen habe – ohne ständigen Familienbesuch. Ein Liebespaar berichtete, noch nie so viel Sex gehabt zu haben. Studenten kehrten in die Kernfamilie zurück und machten Spieleabende wie sonst nur zu Weihnachten.
Grünewald nennt diese Lebenshaltung „Corona-Biedermeier“. Man richte sich ein in einen geruhsamen, entschleunigten Lebensduktus, genieße eine Art kollektiven Vorruhestand und sortiere sein Leben. Viele stellten sich Fragen wie: Wohin muss ich wirklich reisen? Sind alle meine Bekannten Freunde? Brauche ich all die Klamotten, die ich im Kleiderschrank horte?
Den Biedermeier-Effekt könnte man als positive Entwicklung verbuchen. Endlich haben Menschen all ihre guten Vorsätze zu Entschleunigung, Konsumverzicht und Besinnung tatsächlich umgesetzt. Doch zum Befund gehört auch, dass Corona diesen „Luxus“nur einer bestimmten Gruppe erlaubt hat: jenen, die alimentiert sind, weil sie sichere Jobs haben, verbeamtet oder Rentner sind oder schlicht wohlhabend. Der Rest musste sehen, wie er durchkam.
„Corona hat die Spaltung der Gesellschaft vertieft“, sagt Grünewald,
„die einen hatten ein noch schöneres Leben und mussten kein schlechtes Gewissen haben, denn Müßigang war oberste Bürgerpflicht. Die anderen sahen überhaupt keine Perspektive und fürchten sich jetzt vor dem Wegfall des Kurzarbeitergeldes.“
Diese Spaltung gab es natürlich schon vor der Pandemie, Corona hat sie wie so vieles sichtbarer gemacht und verschärft. Doch der Rückzug der Besserverdienenden ins Biedermeierliche ist durchaus bemerkenswert. Corona hat Menschen zu einer Beschaulichkeit gezwungen, die sie sich selbst nicht zugestanden haben. Die spannende Frage ist: Warum eigentlich nicht? Warum musste erst eine Pandemie kommen, damit
Leute ohne Scham beschließen, ihren Urlaub in der Eifel zu verbringen? Oder aufhören, unnütze Dinge zu kaufen? Oder ihre Zeit nur noch mit Menschen verbringen, die ihnen wirklich wichtig sind?
Teils ist das wohl eine Statusfrage. Sich tolle Reisen oder schöne Dinge leisten zu können, ist in der Konsumgesellschaft eine Möglichkeit, soziale Stellung zu signalisieren. Durch die Isolation verloren diese Äußerlichkeiten an Signalkraft, ließ auch der Zwang, sich ständig zu vergleichen, etwas nach. Im Biedermeier mit seiner hausbackenen Genügsamkeit genügt der Einzelne sich selbst, konzentriert sich zufrieden auf die Kernfamilie, lässt alle Unbill vor der Tür. Die Epoche war im 19. Jahrhundert ja eine Zeit politischer Reaktion. Der Einigelung, bevor 1848 in bürgerlichen Kreisen revolutionäre Kräfte losbrachen.
Biedermeier steht allerdings nicht nur für Beschaulichkeit, sondern auch für rigide Rollenmuster. Die Frau am Herd, das Kind artig mit seinem Spielzeug, der Mann sorgt fürs Einkommen. Auch diese Seite scheint in den gesellschaftlichen Veränderungen durch Corona auf, übernahmen im Lockdown doch meist Frauen das Homeschooling oder die Versorgung alter Menschen, deren Pflegekraft in die osteuropäische Heimat zurückgefahren war.
Reine Beschaulichkeit hat Corona aber auch den Bessergestellten nicht gebracht. „Die Entschleunigung geht einher mit einer Verdichtung im digitalen Raum“, sagt Grünewald. Menschen, die ihre Gärten neu gestalteten, abends mehr Zeit für ihre Kinder hatten, mussten im Homeoffice oft viel effizienter arbeiten. „Meetings laufen virtuell kürzer ab, die Dinge werden schnell geklärt, das Soziale fällt weg, das erhöht die Schlagzahl“, sagt Grünewald. Der neue Biedermeier-Mensch lebe also selbst ein gespaltenes Leben mit Phasen, in denen er formal effizient agieren müsse, und anderen Phasen, in denen er die Seele baumeln lassen könne.
Grünewald glaubt, dass die Biedermeier-Erfahrungen des Lockdowns langfristig Wirkung zeigen. „Das war ja wie ein Sabbatical“, sagt der Psychologe. Nun zögen die Leute Bilanz. Viele überlegten, ob sie weiter im Homeoffice arbeiten oder ihre Arbeitszeiten reduzieren sollten. Auch die Globalisierungsskepsis, die schon vorher empfunden wurde, werde vermutlich zunehmen. „Viele haben schöne Erfahrungen in ihrer näheren Umgebung gemacht, das stärkt die Bindung an die Region“, so Grünewald. Außerdem denkt er, dass die Menschen offener bleiben für die Sinnfrage.
Das historische Biedermeier war eine Zeit der Unterdrückung und Zensur. Ihr folgte eine Phase bürgerlichen Aufbegehrens. Das Biedermeier der Gegenwart ist ein freiwilliger Rückzug, wenn auch angestoßen durch die Zwänge einer Pandemie. Ein Reflex auf die Schnelllebigkeit unserer Zeit. Ein Privileg.