Rheinische Post Duisburg

Vom Zwang zu hungern

- VON REGINA HARTLEB

Morgen fange ich an, meine Krankheit zu bekämpfen“, sagt die 18-jährige Emma Caris tapfer in die Kamera. Es sind ihre letzten Worte, die sie selbst filmt. Wenige Tage später verliert sie den jahrelange­n Kampf gegen ihre Magersucht. Sie stirbt in Portugal, in einer Spezialkli­nik. Einem Camp, in dem ehemals Magersücht­ige heutigen Magersücht­igen helfen. Ihre Familie kann nicht dabei sein.

Auch wer zuvor niemals mit dem Thema konfrontie­rt worden ist, vergisst die Bilder dieses Mädchens aus Jessica Villerius’ Dokumentat­ion „Emma will leben“nicht. Am Ende ist sie bereits mehr tot als lebendig, ein Gerippe, überzogen mit papierdünn­er Haut und müden Augen in tiefen, dunklen Höhlen. Sie ist das schockiere­nde und unendlich traurige Beispiel für den schlimmstm­öglichen Verlauf einer Magersucht.

Anorexia nervosa, so nennen Fachleute die Magersucht, ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate. Unterschie­dliche Quellen geben hierzu Zahlen zwischen zehn und 15 Prozent der Betroffene­n an. An der Universitä­t Duisburg-Essen beschäftig­t man sich seit Jahren mit der Forschung zur Behandlung der Magersucht. Nun ist es den Wissenscha­ftlern erstmals gelungen, Patienten mit einem Medikament zu helfen. Erste Tests zeigten schon nach kurzer Zeit deutliche psychische und körperlich­e Besserunge­n.

Der Schlüssel zum Erfolg könnte das Hormon Leptin sein. Leptin reguliert den Hungerzust­and im Organismus. Es wird in Fettzellen gebildet und gelangt von dort über die Blutbahn in die Organe und ins Gehirn. Dort steuert es die Anpassung des Körpers an Hunger. Sind Fettzellen reichlich vorhanden und gut gefüllt mit Leptin, senden sie das Signal „Wir sind satt“. Bei hungernden und sehr dünnen Menschen fällt der Leptinspie­gel im Blut stark ab. Ein Mangel des Hormons führt dann langfristi­g dazu, dass der Organismus sich auf diesen Notzustand einstellt. Bei dauerhafte­r Unterernäh­rung geht der Körper in den Energiespa­rmodus. Das Wachstum wird eingestell­t, Haare werden dünn und fallen aus, die Nägel werden brüchig. Zu dem körperlich­en Verfall stellen sich bei Hungernden psychische Auffälligk­eiten ein: Die Gedanken kreisen zwanghaft ausschließ­lich um das Thema Essen. Die wenigen Lebensmitt­el, die der Betroffene zu sich nimmt, werden in kleinste Stücke portionier­t. Bei Magersücht­igen kommen weitere Symptome hinzu: Bei ihnen ist die Psyche der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Ihre Selbstwahr­nehmung ist derart verzerrt, dass sie sich auch in abgemagert­estem Zustand noch dick finden. Mediziner nennen dies Körpersche­mastörung. Nach jeder noch so minimalen Nahrungsau­fnahme tun sie alles, um die zugeführte­n Kalorien schnellstm­öglich wieder loszuwerde­n, sei es durch exzessiven Bewegungsd­rang, Erbrechen, oder die Einnahme von Abführmitt­eln.

Magersucht ist tückisch. Sie beginnt schleichen­d. Familie und

Freunde merken häufig lange Zeit gar nichts. Auch Emmas Eltern haben ihren langsam fortschrei­tenden Verfall zunächst nicht wahrgenomm­en. „Anfangs ließ sie öfters mal den Keks zum Kaffee weg“, erinnert sich ihre Mutter in der Doku. Es kann aber auch das Pausenbrot sein, das immer häufiger verschenkt wird. Oder aus dem täglichen Müsli mit Banane zum Frühstück wird erst ein Apfel mit Müsli, eines Tages dann nur noch ein Apfel. Über die Zahl der Betroffene­n gibt es unterschie­dliche Angaben. Die Dunkelziff­er ist vermutlich hoch. „Wir gehen von rund einem Prozent der weiblichen Bevölkerun­g und etwa 0,1 Prozent Betroffene­n unter Männern aus“, sagt Johannes Hebebrand über die Anzahl der Betroffene­n. Hebebrand ist Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am LVR-Klinikum Essen (Kliniken und Institut der Universitä­t Duisburg-Essen). Das bedeutet, aktuell wären in Deutschlan­d allein etwa 400.000 Frauen magersücht­ig. Hebebrand

und sein Team verabreich­ten einer kleinen Testgruppe ein bis zwei Wochen lang Leptin per Subkutansp­ritze. „Es waren drei schwere Fälle von Magersucht, die zuvor bereits klinisch behandelt wurden“, so der Mediziner. Der Effekt war bemerkensw­ert: Schon nach wenigen Tagen besserte sich der psychische Allgemeinz­ustand der Patienten erheblich. „Sie konnten sich deutlich besser konzentrie­ren, waren insgesamt ausgeglich­ener und verspürten sogar Appetit“, sagt Hebebrand. Auch der sonst für Magersücht­ige typische, extreme Bewegungsd­rang habe spürbar nachgelass­en.

Hebebrand, der auch Lehrstuhli­nhaber für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie an der Universitä­t Duisburg-Essen ist, betont aber die Notwendigk­eit weiterer Studien. Bisher ist es nur eine erste kleine Gruppe, die positive Reaktionen auf die Gabe von Leptin zeigte. Eine größere Studie mit dem Medikament soll nun folgen. „Das Ziel muss natürlich sein, dass die Betroffene­n ein Gewicht erreichen, in dem ihr Körper wieder selbst Leptin bildet“, sagt Hebebrand. Letztlich müsse der Patient selbst den Willen haben, dem Teufelskre­is zu entkommen. „Dabei könnte Leptin hilfreich sein, denn es macht die Patienten zugänglich­er für die psychother­apeutische Behandlung“, so der Wissenscha­ftler.

Emma Caris’ Kampf gegen die Magersucht begann mit zwölf Jahren. Ärzte, Psychologe­n, Familie und Freunde, sie alle haben jahrelang alles versucht, um ihr zu helfen. Durch Aufenthalt­e in Krankenhäu­sern, Psychiatri­en und Zwangsernä­hrung. Aber auch mit ganz besonderen Anreizen wie etwa einer sehnlichst gewünschte­n Reise nach New York. Letztlich waren es immer nur kurze Phasen der Regenerati­on, ein kurzes Aufflacker­n des Gefühls, wie sich das Leben anfühlen kann – ohne den permanente­n Zwang zu hungern. Mit 18 Jahren war Emmas Weg zu Ende. Sie wollte leben bis zum Schluss. Und sie wollte diesen Film, der ihren qualvollen Kampf gegen die heimtückis­che Krankheit begleitet. Heute hätte sie es vielleicht geschafft, zu gewinnen.

Aus dem täglichen Müsli mit Apfel wird eines Tages nur noch

ein Apfel

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