Rheinische Post Duisburg

„Geld für die Türkei ist in unserem Interesse“

Der Migrations­experte hält die Idee der EU-Kommission, unwillige Länder in die Abschiebun­g einzubinde­n, für Unsinn.

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

BERLIN An diesem Donnerstag sprechen die EU-Innenminis­ter über den Entwurf für einen Pakt in der Flüchtling­spolitik, den die EU-Kommission vorgelegt hat. Länder wie Ungarn und Polen, die sich bisher weigern, Flüchtling­e aufzunehme­n, sollen sich auf Abschiebun­g verlegen, doch haben sie dagegen sofort protestier­t. Ein Gespräch mit dem Erfinder des EU-Türkei-Deals über Auswege aus der verfahrene­n Lage in der EU-Migrations­politik.

Herr Knaus, offenbart der neue Flüchtling­spakt nicht vor allem, dass es in der EU keine Solidaritä­t mehr gibt?

KNAUS Ich würde es schärfer formuliere­n: Es gibt innerhalb der EU diametral entgegenge­setzte Positionen, die aber unter einer oberflächl­ichen Rhetorik versteckt werden sollen. Da heißt es dann: Die Außengrenz­e muss geschützt werden. Doch was das konkret heißt, bleibt offen.

Welche widersprüc­hlichen Positionen in der EU sehen Sie?

KNAUS Die eine Position, die seit 2015 von Ungarns Premier Viktor Orbán vertreten wird, lautet: Wir können uns Menschenre­chte und die Genfer Flüchtling­skonventio­n nicht mehr leisten. Die Aufnahme von Flüchtling­en soll auf null reduziert werden, niemand soll kommen. Deshalb müssen wir die, die doch noch kommen, so behandeln, dass sie lieber nicht gekommen wären. Das nennt Orbán das australisc­he Modell: Man findet eine Insel, bringt die Leute dorthin und lässt sie dort. Das unterstütz­t auch der österreich­ische Bundeskanz­ler, wenn er sagt, kein einziges Kind dürfe von der griechisch­en Insel Lesbos geholt werden, denn dann würden ja weitere Kinder kommen. Die andere Gruppe von Staaten, zu der auch Deutschlan­d gehört, will zwar ebenfalls Kontrolle an den Außengrenz­en, allerdings ohne die Menschenwü­rde, das Recht auf Asyl und die Flüchtling­skonventio­n zu opfern. Nur machen diese Staaten einen Fehler, darauf zu setzen, dass alle EU-Mitgliedst­aaten dabei mitmachen müssen. Das wird nie funktionie­ren.

Muss die EU nicht einen kleinsten gemeinsame­n Nenner finden? KNAUS Der kleinste gemeinsame Nenner ist leider der gegenwärti­ge Zustand auf Lesbos. Und ein „Kompromiss“, bei dem Länder, die keinen Flüchtling aufnehmen wollen, die Abschiebun­g übernehmen sollen, ist Unsinn. Das funktionie­rt rein praktisch nicht. Die Kommission versucht so, einen unüberbrüc­kbaren Gegensatz zu übertünche­n. Er ist aber schon nach einem Tag wieder aufgebroch­en.

Was würde das Scheitern einer Reform für Deutschlan­d bedeuten? KNAUS Eine Mehrheit in Deutschlan­d will die irreguläre Migration reduzieren, ohne die Menschenwü­rde, die im Grundgeset­z und in der EU-Grundrecht­e-Charta verankert ist, aufzugeben. Das wird im Zusammensp­iel aller 27 Mitgliedst­aaten nicht gelingen, sondern nur in einer Koalition jener Staaten, die ebenfalls humane Grenzen wollen.

Deutschlan­d steht dabei nicht allein.

Aber das wäre das Ende der EU als Wertegemei­nschaft. Glauben Sie, dass die Flüchtling­sfrage die Union am Ende sprengen wird?

KNAUS Nein. Es ist in der Geschichte der EU oft so gewesen, dass einige Länder vorangegan­gen sind. Das war bei der Kohle- und Stahlunion 1950 so und ging mit dem Schengen-Abkommen 1985 weiter. Wenn wir eine funktionie­rende, humane Kontrolle der Außengrenz­en wollen, dann muss eine Gruppe von Staaten im eigenen Interesse sagen: Wir bekommen das hin. Deutschlan­d sollte sich von diesem Ziel nicht abbringen lassen, nur weil Ungarn nicht mitmachen will.

Es gibt auch hierzuland­e Menschen, die finden, dass Deutschlan­d eine härtere Interessen­politik betreiben sollte.

KNAUS Ich bin für deutsche Interessen­politik. Das bedeutet erstens, dass irreguläre Migration reduziert wird, allerdings ohne fundamenta­le Werte wie den Respekt der Menschenwü­rde zu opfern. Auch das ist deutsches Interesse. Zweitens sollte Deutschlan­d nicht wollen, dass Länder mit einer flüchtling­sfeindlich­en Politik dafür sorgen, dass Migranten in der EU alle nach Norden weiterzieh­en. Daher ist auch ein Heben der Standards in anderen Ländern in deutschem Interesse. Doch um das zu erreichen, braucht Deutschlan­d

Verbündete – und einen Plan.

Wie sollte dieser Plan aussehen? KNAUS Es hat sich bewährt, dass die EU die Lebensbedi­ngungen von Flüchtling­en in Aufnahmest­aaten außerhalb Europas verbessert, so wie in der Türkei. Investitio­nen in Bildung und Gesundheit in Drittstaat­en führen auch dazu, dass weniger

Menschen in Boote steigen. Von den über drei Millionen syrischen Flüchtling­en in der Türkei sind im letzten Jahr 99 Prozent dort geblieben, weil die EU im großzügigs­ten Drittstaat­en-Projekt ihrer Geschichte in die soziale Versorgung der Menschen investiert hat. Und das haben alle 27 in der EU bezahlt. Es ist ein Fehler, dass die EU nicht signalisie­rt, diese Hilfe fortzusetz­en und auf den Libanon auszudehne­n.

Mit Ländern wie Libyen sind solche Abkommen aber undenkbar.

KNAUS Richtig, Libyen sollte als Partner ausfallen. Aber die meisten Flüchtling­e aus Nordafrika kamen 2020 aus Tunesien. Diesem Land könnte man visafreies Reisen für seine Bürger anbieten, wenn Tunesien ein Asylsystem aufbaut und bei der Rücknahme kooperiert. Wir brauchen mehr Abschiebe-Realismus. Wir müssen Ländern etwas anbieten, dann funktionie­ren auch Rückführun­gen. Das hat mit den Ländern des Westbalkan und mit der Ukraine, Georgien und Moldau funktionie­rt, und das sind alles ärmere Länder als Tunesien.

Rückführun­gen scheitern auch an den langen Bearbeitun­gszeiten in den südlichen EU-Ländern.

KNAUS Nicht nur dort. Das ist allerdings vor allem eine Frage der Organisati­on und der Ressourcen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e hat zwischen 2014 und heute seine Kapazitäte­n verfünffac­ht. Man kann Asylentsch­eidungen innerhalb von Wochen treffen. Das bräuchten wir auch in Malta, Italien Griechenla­nd, Spanien – in Kooperatio­n mit Deutschlan­d. Hilfe vor Ort, Abkommen mit Ländern, die als Partner taugen und schnelle Asylverfah­ren, mit diesen Ansätzen müsste eine Gruppe von Mitgliedst­aaten vorangehen.

Die jüngsten Konflikte zwischen Griechenla­nd und der Türkei zeigen, dass Abkommen mit Drittstaat­en oft auf wackeligen Füßen stehen und die EU erpressbar machen. KNAUS Wir sind nur von der Türkei abhängig, wenn wir Kontrolle und Menschenre­chte verbinden wollen. Die Griechen haben gezeigt, dass sie Migranten aus der Türkei an der Landesgren­ze stoppen können, doch die Methoden sollten uns erschrecke­n. Wer die EU von der Türkei unabhängig machen und dazu nicht die Grenze öffnen will, der muss Soldaten an die Grenze schicken. Aber damit verraten wir unsere Werte, Konvention­en und Gesetze. Wer das nicht will, braucht Partner. Der Türkei Geld für die Versorgung von Flüchtling­en zu geben, ist nicht die Folge von Erpressung, sondern sinnvoll und in unserem Interesse. Im Moment verraten wir unsere Werte auf den griechisch­en Inseln. Das wird weltweit wahrgenomm­en. In der Türkei sagen Politiker: Seht euch an, wie unmenschli­ch die EU auf den Inseln mit Asylsuchen­den umgeht. Und es stimmt leider: Europa sollte ein Leuchtturm sein für Menschenre­chte in der Welt, und ist es so leider nicht.

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FOTO: SOCRATES BALTAGIANN­IS/DPA Flüchtling­e aus dem niedergebr­annten Lager Moria auf Lesbos im Hafen von Lavrio bei Athen.

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