„Geld für die Türkei ist in unserem Interesse“
Der Migrationsexperte hält die Idee der EU-Kommission, unwillige Länder in die Abschiebung einzubinden, für Unsinn.
BERLIN An diesem Donnerstag sprechen die EU-Innenminister über den Entwurf für einen Pakt in der Flüchtlingspolitik, den die EU-Kommission vorgelegt hat. Länder wie Ungarn und Polen, die sich bisher weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen sich auf Abschiebung verlegen, doch haben sie dagegen sofort protestiert. Ein Gespräch mit dem Erfinder des EU-Türkei-Deals über Auswege aus der verfahrenen Lage in der EU-Migrationspolitik.
Herr Knaus, offenbart der neue Flüchtlingspakt nicht vor allem, dass es in der EU keine Solidarität mehr gibt?
KNAUS Ich würde es schärfer formulieren: Es gibt innerhalb der EU diametral entgegengesetzte Positionen, die aber unter einer oberflächlichen Rhetorik versteckt werden sollen. Da heißt es dann: Die Außengrenze muss geschützt werden. Doch was das konkret heißt, bleibt offen.
Welche widersprüchlichen Positionen in der EU sehen Sie?
KNAUS Die eine Position, die seit 2015 von Ungarns Premier Viktor Orbán vertreten wird, lautet: Wir können uns Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr leisten. Die Aufnahme von Flüchtlingen soll auf null reduziert werden, niemand soll kommen. Deshalb müssen wir die, die doch noch kommen, so behandeln, dass sie lieber nicht gekommen wären. Das nennt Orbán das australische Modell: Man findet eine Insel, bringt die Leute dorthin und lässt sie dort. Das unterstützt auch der österreichische Bundeskanzler, wenn er sagt, kein einziges Kind dürfe von der griechischen Insel Lesbos geholt werden, denn dann würden ja weitere Kinder kommen. Die andere Gruppe von Staaten, zu der auch Deutschland gehört, will zwar ebenfalls Kontrolle an den Außengrenzen, allerdings ohne die Menschenwürde, das Recht auf Asyl und die Flüchtlingskonvention zu opfern. Nur machen diese Staaten einen Fehler, darauf zu setzen, dass alle EU-Mitgliedstaaten dabei mitmachen müssen. Das wird nie funktionieren.
Muss die EU nicht einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden? KNAUS Der kleinste gemeinsame Nenner ist leider der gegenwärtige Zustand auf Lesbos. Und ein „Kompromiss“, bei dem Länder, die keinen Flüchtling aufnehmen wollen, die Abschiebung übernehmen sollen, ist Unsinn. Das funktioniert rein praktisch nicht. Die Kommission versucht so, einen unüberbrückbaren Gegensatz zu übertünchen. Er ist aber schon nach einem Tag wieder aufgebrochen.
Was würde das Scheitern einer Reform für Deutschland bedeuten? KNAUS Eine Mehrheit in Deutschland will die irreguläre Migration reduzieren, ohne die Menschenwürde, die im Grundgesetz und in der EU-Grundrechte-Charta verankert ist, aufzugeben. Das wird im Zusammenspiel aller 27 Mitgliedstaaten nicht gelingen, sondern nur in einer Koalition jener Staaten, die ebenfalls humane Grenzen wollen.
Deutschland steht dabei nicht allein.
Aber das wäre das Ende der EU als Wertegemeinschaft. Glauben Sie, dass die Flüchtlingsfrage die Union am Ende sprengen wird?
KNAUS Nein. Es ist in der Geschichte der EU oft so gewesen, dass einige Länder vorangegangen sind. Das war bei der Kohle- und Stahlunion 1950 so und ging mit dem Schengen-Abkommen 1985 weiter. Wenn wir eine funktionierende, humane Kontrolle der Außengrenzen wollen, dann muss eine Gruppe von Staaten im eigenen Interesse sagen: Wir bekommen das hin. Deutschland sollte sich von diesem Ziel nicht abbringen lassen, nur weil Ungarn nicht mitmachen will.
Es gibt auch hierzulande Menschen, die finden, dass Deutschland eine härtere Interessenpolitik betreiben sollte.
KNAUS Ich bin für deutsche Interessenpolitik. Das bedeutet erstens, dass irreguläre Migration reduziert wird, allerdings ohne fundamentale Werte wie den Respekt der Menschenwürde zu opfern. Auch das ist deutsches Interesse. Zweitens sollte Deutschland nicht wollen, dass Länder mit einer flüchtlingsfeindlichen Politik dafür sorgen, dass Migranten in der EU alle nach Norden weiterziehen. Daher ist auch ein Heben der Standards in anderen Ländern in deutschem Interesse. Doch um das zu erreichen, braucht Deutschland
Verbündete – und einen Plan.
Wie sollte dieser Plan aussehen? KNAUS Es hat sich bewährt, dass die EU die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Aufnahmestaaten außerhalb Europas verbessert, so wie in der Türkei. Investitionen in Bildung und Gesundheit in Drittstaaten führen auch dazu, dass weniger
Menschen in Boote steigen. Von den über drei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei sind im letzten Jahr 99 Prozent dort geblieben, weil die EU im großzügigsten Drittstaaten-Projekt ihrer Geschichte in die soziale Versorgung der Menschen investiert hat. Und das haben alle 27 in der EU bezahlt. Es ist ein Fehler, dass die EU nicht signalisiert, diese Hilfe fortzusetzen und auf den Libanon auszudehnen.
Mit Ländern wie Libyen sind solche Abkommen aber undenkbar.
KNAUS Richtig, Libyen sollte als Partner ausfallen. Aber die meisten Flüchtlinge aus Nordafrika kamen 2020 aus Tunesien. Diesem Land könnte man visafreies Reisen für seine Bürger anbieten, wenn Tunesien ein Asylsystem aufbaut und bei der Rücknahme kooperiert. Wir brauchen mehr Abschiebe-Realismus. Wir müssen Ländern etwas anbieten, dann funktionieren auch Rückführungen. Das hat mit den Ländern des Westbalkan und mit der Ukraine, Georgien und Moldau funktioniert, und das sind alles ärmere Länder als Tunesien.
Rückführungen scheitern auch an den langen Bearbeitungszeiten in den südlichen EU-Ländern.
KNAUS Nicht nur dort. Das ist allerdings vor allem eine Frage der Organisation und der Ressourcen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zwischen 2014 und heute seine Kapazitäten verfünffacht. Man kann Asylentscheidungen innerhalb von Wochen treffen. Das bräuchten wir auch in Malta, Italien Griechenland, Spanien – in Kooperation mit Deutschland. Hilfe vor Ort, Abkommen mit Ländern, die als Partner taugen und schnelle Asylverfahren, mit diesen Ansätzen müsste eine Gruppe von Mitgliedstaaten vorangehen.
Die jüngsten Konflikte zwischen Griechenland und der Türkei zeigen, dass Abkommen mit Drittstaaten oft auf wackeligen Füßen stehen und die EU erpressbar machen. KNAUS Wir sind nur von der Türkei abhängig, wenn wir Kontrolle und Menschenrechte verbinden wollen. Die Griechen haben gezeigt, dass sie Migranten aus der Türkei an der Landesgrenze stoppen können, doch die Methoden sollten uns erschrecken. Wer die EU von der Türkei unabhängig machen und dazu nicht die Grenze öffnen will, der muss Soldaten an die Grenze schicken. Aber damit verraten wir unsere Werte, Konventionen und Gesetze. Wer das nicht will, braucht Partner. Der Türkei Geld für die Versorgung von Flüchtlingen zu geben, ist nicht die Folge von Erpressung, sondern sinnvoll und in unserem Interesse. Im Moment verraten wir unsere Werte auf den griechischen Inseln. Das wird weltweit wahrgenommen. In der Türkei sagen Politiker: Seht euch an, wie unmenschlich die EU auf den Inseln mit Asylsuchenden umgeht. Und es stimmt leider: Europa sollte ein Leuchtturm sein für Menschenrechte in der Welt, und ist es so leider nicht.