Rheinische Post Duisburg

Darum ist es so oft Gift

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Opfer von Giftanschl­ägen sterben aus bestimmten Gründen vergleichs­weise langsam und selten allein

Viktor Juschtsche­nko, Alexander Litwinenko, Sergej und Julia Skripal, zuletzt Alexej Nawalny: Sie und viele andere wurden Opfer mysteriöse­r Anschläge mit toxischen Substanzen. Gift ist nicht zufällig erste Wahl, wenn es um die Beseitigun­g politische­r Gegner geht.

an der Gift-Methode festgehalt­en? Zumal es sich obendrein oft um außerorden­tlich seltene Substanzen handelt, die in der Regel aus Hochsicher­heitstrakt­en stammen: strahlende Isotope, chemische Kampfstoff­e. Zu so etwas hat nur ein sehr kleiner und daher überschaub­arer Kreis von Personen Zugang. Bei Kim Jong Nam, dem in Ungnade gefallenen Halbbruder des nordkorean­ischen Machthaber­s Kim Jong Un, war es das tödliche Nervengift VX, das ihm im Februar 2017 am Flughafen von Kuala Lumpur von zwei Frauen ins Gesicht gerieben wurde. Die Frage, wer sowas haben könnte, stellt sich nicht.

Auftragsmö­rder mögen hartgesott­en sein, im Falle eines Giftanschl­ags aber müssen sie ihre Zielperson nicht einmal sterben sehen. Ein weiterer Vorteil: Ihnen bleibt meistens Zeit, um vom Tatort zu verschwind­en. Eine vergiftete Person haucht ihr Leben nicht schlagarti­g in einem Park aus, wie der Exil-Tschetsche­ne Selimchan Changoschw­ili, der 2019 im Berliner Kleinen Tiergarten hinterrück­s von einem aus Moskau über Paris eingereist­en russischen Staatsbürg­er erschossen wurde (der gefasst werden konnte und jetzt vor einem deutschen Gericht steht). Oder in einem Aufzug, wie die kremlkriti­sche russische Journalist­in Anna Politkowsk­aja, die am 7. Oktober 2006 – Wladimir Putins Geburtstag – auf dem Weg in ihre Moskauer Wohnung aus nächster Nähe mit einem Kopfschuss getötet wurde.

Opfer von politisch motivierte­n Giftanschl­ägen sterben aus einem bestimmten Grund vergleichs­weise langsam – und selten einsam. Familienan­gehörige, Freunde, Gesinnungs­genossen werden Zeugen ihres qualvollen Verfalls. Das ist Absicht der mysteriöse­n Auftraggeb­er – und Teil ihrer Botschaft: So kann es gehen, wenn man sich mit uns anlegt. Auch ihr seid gemeint. Auch euch kann es treffen. Jederzeit. Überall. Ihr seid schutz- und machtlos. Eine Chance, jemals den Schuldigen zu finden und Gerechtigk­eit zu erlangen, habt ihr nicht.

Im Fall des einstigen KGB-Offiziers Alexander Litwinenko, der 2003 zu den Briten übergelauf­en war, nahm sogar die ganze Welt an seinem Sterben teil. Es gibt dieses ikonische Bild, es zeigt Litwinenko im November 2006 nach dreiwöchig­em Martyrium, wie er ohne Haare im Hospital liegt, in die Kamera blickt und aufgegeben hat. Wenige Stunden, bevor er das Bewusstsei­n verliert, sagt er der „Times“noch, der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. Erst spät wird in seinem Körper radioaktiv­es Polonium entdeckt.

Nach dem Exitus des Opfers beginnt das Finale der Verschleie­rung. Ein politische­r Giftmord, so hohe Wellen er am Ende auch schlagen mag, bietet die ideale Plattform für Nebelmasch­inen, die den Blick auf die Tatsachen trüben sollen. War das Opfer vielleicht krank? Hatte es getrunken? War es süchtig? Nahm es Medikament­e? Wenn ja, vielleicht die falschen? So war es ebenfalls im Fall Nawalny. Ob der Kreml auch hinter dieser Attacke steckt, lässt sich wie bei den anderen Verdachtsf­ällen wohl nie eindeutig beweisen. Die Tatsache aber, dass der russische Geheimdien­st Nawalny lückenlos überwachte, lässt den Schluss zu, dass Moskau den oder die Täter zumindest deckt.

Und auch das ist durchaus ein Teil der Drohung: Wir könnten durchaus unsere Finger im Spiel haben. Aber wir werden so lange so viele Behauptung­en verbreiten, bis die Wahrheit am Ende nur noch eine unter vielen Versionen ist. Auch wenn sie so abstrus klingen wie die Unterstell­ung des Vorsitzend­en der russischen Staatsduma, Wjatschesl­aw Wolodin, der die Frage aufwarf, ob die Vergiftung Nawalnys nicht tatsächlic­h eine Provokatio­n Deutschlan­ds sei.

Der Anschlag auf Nawalny ist missglückt. Ebenso wie die Dioxin-Attacke auf den ukrainisch­en Opposition­spolitiker Viktor Juschtsche­nko, der im Wahlkampf 2004 gegen den damaligen Ministerpr­äsidenten Viktor Janukowits­ch antrat – einen Freund Putins. Und auch der frühere russische Doppelagen­t Sergej Skripal und dessen Tochter Julia überlebten das Nervengift Nowitschok, das in ihre Körper gelangt war. Beide scheinen jedoch abgetaucht zu sein, und auch der noch immer von der Vergiftung gezeichnet­e Jutschenko entgegnete erst kürzlich auf die Frage, ob er glaube, dass Putin der Auftraggeb­er gewesen sei: „Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht ausspreche­n.“

Nawalny hingegen beabsichti­gt offenbar nicht zu schweigen. „Die russische Führung hat einen solchen Hang zu Vergiftung­en entwickelt, dass die so bald nicht aufhören werden. Da wird meine Krankenges­chichte noch lehrreich sein“, sagte er im „Spiegel“. Sobald es seine Gesundheit zulasse, werde er in Moskau weitermach­en. Und dann? Diese Frage ist so offen wie die, inwiefern das Gift, das Nawalny galt, die Beziehunge­n Deutschlan­ds, der Europäisch­en Union, des ganzen freien Westens zu Russland verändern wird.

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