Rheinische Post Duisburg

Die brutale Mathematik des Coronaviru­s

- VON MARTIN KESSLER

Der rasche Anstieg der Neuinfekti­onszahlen versetzt die Politik in Panik. Die Dynamik der Fallzahlen ist aber die gleiche wie zu Beginn der Pandemie. Das Virus breitet sich mal wieder exponentie­ll aus.

DÜSSELDORF Bundeskanz­lerin Angela Merkel ist studierte Physikerin. Die Dynamik der Ausbreitun­g einer Krankheit und die dahinter liegende Mathematik sind ihr wohl vertraut. Das unterschei­det sie von manchen der Ministerpr­äsidenten, die als Juristen oder Politologe­n ausgebilde­t wurden. Sie können sich auch nach sieben Monaten Corona-Pandemie noch immer nicht richtig vorstellen, was es bedeutet, wenn Fallzahlen erst langsam, dann aber immer schneller zunehmen. Die niedrige Zahl der Neuinfekti­onen im Sommer, als sich teilweise nur 300 Menschen pro Tag ansteckten und die Ausbreitun­g der Krankheit deutlich langsamer wurde, hat vor allem die Politiker beflügelt, die sich für einen Lockerungs­kurs starkmacht­en. Die Kanzlerin gehörte nicht zu ihnen.

Intuitiv kann man sich die Dynamik von Wachstumsp­rozessen nicht richtig vorstellen. Kleine Zahlen, die am Beginn eines solchen Wachstums stehen, seien es private Schulden, aber auch die Ausbreitun­g einer Krankheit, verleiten viele Menschen zu einer verheerend­en Sorglosigk­eit, selbst wenn man noch vor Kurzem andere Erfahrunge­n gemacht hat. Der Alltag bietet viele solcher Beispiele. Man nimmt einen Kredit auf oder bezahlt eine Handyrechn­ung nicht. Und nach einer längeren Phase der permanente­n

Nichtbeach­tung stehen durch den Zinseszins-Effekt auf einmal gewaltige Summen zur Rückzahlun­g an, die nicht selten in eine Privatinso­lvenz münden.

Bei der durch das Coronaviru­s ausgelöste­n Krankheit Covid-19 kann das zu noch fataleren Fehleinsch­ätzungen führen. Wer am Anfang einer Epidemie nicht rigoros mit Testverfah­ren oder Sperrzonen durchgreif­t, riskiert schnell die Durchseuch­ung der gesamten Bevölkerun­g – ohne Impfstoff und ausreichen­de Krankenhau­skapazität­en. Das passierte ganz am Anfang der Pandemie und auch jetzt wieder – bis vor Kurzem. Obwohl die Fallzahlen seit Wochen steigen, wurde das Gesamtgesc­hehen vernachläs­sigt. Kommunen schritten bei massiven Verstößen gegen Hygienereg­eln bei Partys oder gegen die Obergrenze bei privaten Feiern nicht ein.

Die Dynamik hat sich jetzt verselbsts­tändigt. Dabei ist die Mathematik

der Exponentia­lfunktion immer dieselbe. Vereinfach­t funktionie­rt die Logik nach der berühmten Legende um Sissa ibn Dabir, der im dritten oder vierten Jahrhunder­t nach Christus in Indien lebte und angeblich das Schachspie­l erfand. Weil sein König von diesem Einfall so angetan war, gewährte er dem Gelehrten gönnerhaft einen Wunsch. Sissa verlangte, der Maharadsch­a möge ihm aus den königliche­n Kornkammer­n ein Weizenkorn auf das erste Feld des Schachbret­ts setzen, dann die doppelte Menge, also zwei Körner, auf das nächste, darauf wiederum die doppelte Menge auf das dritte Feld, bis alle Felder des Schachbret­ts gefüllt seien. Der König fühlte sich wegen des allzu bescheiden­en Wunsches beleidigt. Der Legende nach war er so aufgebrach­t, dass er Sissa töten lassen wollte. Nur seinen Wunsch sollte er noch vorher erfüllt bekommen.

Schon nach kurzer Zeit erschienen die Rechenmeis­ter des indischen

" Herrschers und vermeldete­n, dass die Kornkammer­n des Reichs nicht ausreichte­n, um den „bescheiden­en“Wunsch zu erfüllen. Die Zahl lässt sich mithilfe der geometrisc­hen Summenform­el genau bestimmen. Es sind 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615. Beim durchschni­ttlichen Gewicht für 1000 Körner von 40 Gramm käme man ungefähr auf das 1200-Fache der Weltweizen­ernte von 2004, die 624 Millionen Tonnen betrug.

Das kann man auf die Verbreitun­g des Coronaviru­s übertragen. Wenn ein Urpatient jeden Tag zwei weitere infiziert, haben am ersten Tag drei das Virus, am zweiten schon neun, am dritten 27 und am vierten bereits 81. Schon nach 24 Tagen sind 33,6 Millionen Menschen vom Virus befallen. Die tatsächlic­he Dynamik der Expansion des Erregers ist derzeit geringer. So stecken nach den neuesten Zahlen des RKI 100 Infizierte

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im Schnitt 118 weitere Personen an. Daraus ergibt sich die Reprodukti­onsrate 1,18. Sollte dieser R-Wert, der sich täglich ändern kann, bis Ende Oktober anhalten, wären es dann schon fast 80.000 neue Fälle pro Tag.

In Nordrhein-Westfalen mit seinen 19 Hotspots verdoppelt sich die Zahl der Neuinfekti­onen alle neun Tage laut RKI (Stand: 15. Oktober 2020). Statt 1213 Fällen würde die Zahl der Ansteckung­en Ende November schon auf 77.632 hochschnel­len. Das Land wäre lahmgelegt.

Die Exponentia­lfunktion, mit der man das geometrisc­he Wachstum von Größen beschreibt, ist abzugrenze­n vom linearen Wachstum. Bei dem nimmt der Bestand immer um die gleiche absolute Menge zu, beim geometrisc­hen Wachstum um den gleichen Prozentsat­z. Das heißt, die Wachstumsr­ate bleibt gleich. Würde das Virus sich nur arithmetis­ch vermehren, bliebe es bei den

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** "- '* 1213 Ansteckung­en, die NRW derzeit hat. Bis Ende November (nach 53 Tagen) würden insgesamt 83.700 neue Fälle hinzukomme­n. Das wäre beherrschb­ar. Bei einer Verdoppelu­ng der Zahl der Ansteckung­en alle neun Tage wären es fast eine Million neue Fälle bei knapp 18 Millionen Einwohnern. Der Vergleich zeigt die wuchtige Dynamik des exponentie­llen Wachstums.

Exponentie­ll kann ein Bestand, also eine Bevölkerun­g oder ein Kapitalbet­rag, auch abnehmen. Auch an einen Grenzwert kann sich der Bestand exponentie­ll anpassen – nach oben oder unten. Dann spricht man von einer Ober- oder Untergrenz­e. Es ist klar, dass irgendwann eine Bevölkerun­g vom Virus infiziert oder in Teilen immun ist. Dann nehmen die Neufälle ab. Danach strebt übrigens die Politik. „Wir müssen den Anstieg der Kurve abflachen“, sagte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn zu Beginn der Pandemie. Das gilt jetzt wieder – sogar verstärkt.

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