Rheinische Post Duisburg

Jetzt wird die Zeit wirklich knapp

- VON MARKUS GRABITZ

Schaffen es die Europäisch­e Union und Großbritan­nien noch, sich vor Jahresende auf ein Abkommen zu einigen? Die Chancen darauf sollen jüngst gestiegen sein. Beim EU-Gipfel bekräftige­n die Mitgliedst­aaten ihre Position.

BRÜSSEL Mit einer gewissen Genugtuung reisten die Staats- und Regierungs­chefs nach Brüssel. Wieder einmal verstreich­t ein Ultimatum, das der britische Regierungs­chef Boris Johnson Brüssel gesetzt hat. Wieder einmal hat er nur geblufft und wird dann doch nicht den Tisch verlassen, an dem über die künftigen Beziehunge­n zwischen der EU und dem Königreich verhandelt wird. Nach einem Telefonat mit Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel am Mittwochab­end ließ Johnson wissen: Er wolle am Montag im Lichte der Gipfelbesc­hlüsse bekannt geben, wie es aus seiner Sicht weitergehe­n soll.

Dabei waren die Gipfelbesc­hlüsse da bereits absehbar. In einem Entwurf, der unserer Redaktion vorliegt, bekräftige­n die 27 EU-Staaten, nicht diejenigen sein zu wollen, die die Verhandlun­gen abbrechen. Das Dokument gibt dem EU-Chefunterh­ändler Charles Michel die volle Rückendeck­ung und verlangt, dass Johnson das umstritten­e Binnenmark­tgesetz zurücknimm­t, das eine Verletzung des bereits beschlosse­nen Austrittsa­bkommens darstellt. Um zu zeigen, dass die EU nicht naiv ist, fordern die „Chefs“die Kommission auf, zu den bereits beschlosse­nen über 100 Notfallmaß­nahmen im Falle eines ungeregelt­en Brexits am Ende der Übergangsp­eriode Ende Dezember noch weitere vorzuberei­ten.

Angela Merkel, die bis Dezember im Zuge der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft die Geschäfte im Rat führt, sagte zu Beginn des Gipfels: „Wir wollen ein Abkommen, aber zu einem fairen Preis.“Beide Seiten müssten von einer Einigung profitiere­n können.

Die Chancen, dass es doch noch zu einem Deal kommt, sollen in den letzten Tagen gestiegen sein.

Bernd Lange (SPD), Chef des Handelsaus­schusses im Europa-Parlament, schätzt die Chance, dass es doch noch zu einer Einigung in letzter Minute kommen kann, auf 40 Prozent. Beide Seiten müssten dafür ab Montag nonstop verhandeln, die erste Woche in London, die zweite in Brüssel. David McAllister (CDU), Chef des Auswärtige­n Ausschusse­s, macht deutlich, wie hoch der Zeitdruck ist: „Ende Oktober müssen die fertigen Gesetzeste­xte da sein, andernfall­s reicht die Zeit für das Parlament nicht mehr, in der letzten Sitzungswo­che vor der Weihnachts­pause noch grünes Licht zu geben.“

Die EU bietet Johnson ein umfassende­s Freihandel­sabkommen an. Damit behielten die britischen Unternehme­n ohne Zölle auf Dienstleis­tungen und Güter den vollen Zugang zum europäisch­en Markt. Allerdings stellt Brüssel London Bedingunge­n: Es müssten die gleichen Spielregel­n auf beiden Seiten gelten, etwa bei Subvention­en, Arbeitnehm­errechten, Steuern und Umweltaufl­agen. Außerdem müsse klar sein, dass in Streitfäll­en eine Entscheidu­ng vor dem höchsten europäisch­en Gericht, dem Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH), fällt. Zudem müssen EU-Fischer weiterhin einen Zugang zu den britischen Gewässern haben. Die britische Seite ist nicht bereit, die Datenschut­zgrundvero­rdnung weiter als Basis anzuerkenn­en. Sie hätte gern den vollen Marktzugan­g bei Finanzdien­stleistung­en, will aber die Dienstleis­ter unter britische Aufsicht stellen, was Brüssel strikt ablehnt.

Am ersten Gipfeltag beim Abendessen stand zudem der Klimaschut­z auf der Tagesordnu­ng. Beschlüsse sollten nicht gefasst werden. Die Chefs wollten vielmehr eine Orientieru­ngsdebatte führen und sich dann beim nächsten regulären Gipfel im Dezember festlegen. Merkel wirbt darum, „dass die EU-Mitgliedst­aaten

das Ziel von 55 Prozent weniger Emissionen bis 2030 unterstütz­en“. Das Europa-Parlament hat sich gerade für 60 Prozent ausgesproc­hen. Nun müssen sich die Mitgliedst­aaten als Co-Gesetzgebe­r positionie­ren und danach mit dem Parlament einigen. Elf von 27 Mitgliedst­aaten haben sich bereits für 55 Prozent ausgesproc­hen, zusätzlich warb auch Merkel jetzt dafür.

Dabei schauen viele auf Polen und seinen Regierungs­chef Mateusz Morawiecki. Polen hatte vergangene­s Jahr als einziges Mitgliedsl­and nicht dafür gestimmt, für die EU Klimaneutr­alität im Jahr 2050 anzustrebe­n. Und Polen könnte auch die Zielmarke von 55 Prozent für das Jahr 2030 blockieren. Umso mehr dürften Merkel und Co. bedauern, dass Morawiecki diesmal nicht persönlich anreist, sondern vom Videoschir­m das Geschehen verfolgen will.

Allerdings ist schon jetzt klar, dass nicht jedes Mitgliedsl­and 2030 die 55 Prozent erreichen muss. Laut Entwurf des Gipfeldoku­ments soll es bei der Teilung der Lasten zwischen den Mitgliedst­aaten bleiben.

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FOTO: OLIVIER HOSLET/DPA Ursula von der Leyen wartete am Donnerstag im EU-Hauptquart­ier auf die Ankunft von Staats- und Regierungs­chefs zum Gipfel.

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