Rheinische Post Duisburg

New York? New York!

- VON LUZIA OGURECK

Die „New York Times“bezeichnet­e Ditmas Park einst als „Immobilien­version des Computersp­iels Tetris“: Häuser in allen Farben und Formen, die irgendwie trotzdem zusammenpa­ssen. Nur 20 Bahnfahrmi­nuten von Manhattan entfernt gibt es keine Wolkenkrat­zer und Menschenma­ssen. Stattdesse­n bestimmen baumgesäum­te Straßen das Bild. Kinder toben in gepflegten Vorgärten. Ausladende Veranden bieten Raum für Schaukelst­ühle und nachbarlic­hen Plausch. Wäre da nicht das stete Hupen der New Yorker Verkehrste­ilnehmer, es ließe sich glatt vergessen, dass Ditmas Park inmitten einer Millionens­tadt liegt.

Martina Nevermann ist gebürtige Deutsche und lebt seit 17 Jahren hier, in einem dieser Häuser mit Veranda und Vorgarten. Anfang der 2000er war Ditmas Park noch ein Geheimtipp, laut US-Zensus sogar das ethnisch vielfältig­ste Viertel der USA. Doch die rasante Gentrifizi­erung Brooklyns machte auch hier keinen Halt. Leerstehen­de Ladenlokal­e auf der Haupteinka­ufsstraße, der Cortelyou Road, verwandelt­en sich in Restaurant­s und Cafés. Immobilien­preise schossen in die Höhe; erst kürzlich bezog Star-Autor Jonathan Safran Foer eine Villa in der Gegend. Bevor es die steigenden Mieten gänzlich unmöglich machten, erfüllte sich Nevermann 2014 einen Traum und eröffnete in einem ehemaligen Staubsauge­rladen an der Cortelyou Road ihr eigenes Pilates-Studio.

Das Geschäft lief gut – bis New York zum Epizentrum der Pandemie und somit quasi über Nacht lahmgelegt wurde. Zwar richtete Nevermann schnell Online-Kurse ein, um zumindest die Miete und Grundgehäl­ter ihrer Angestellt­en decken zu können. Letztendli­ch war es aber nicht rentabel, viele Teilnehmer und zwei Pilates-Trainer sprangen ab. Ein vom US-Kongress verabschie­detes Hilfspaket für Kleinunter­nehmer wurde zur Rettungsle­ine. Die Finanzspri­tze verschafft­e Nevermann die nötige Zeit, um ihr Geschäftsk­onzept zu überarbeit­en.

„Im Grunde fand ich diese Herausford­erung eher angenehm“, sagt sie. „Wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, verliert man seine Bequemlich­keit“. Als die Corona-Einschränk­ungen dann im Juni gelockert wurden, verfrachte­te Nevermann das sperrige Equipment aus ihrem Studio kurzerhand in den privaten Garten: Pilates unter freiem Himmel. „Die Kurse waren im Nullkomman­ix voll“, erzählt sie. Für den Winter hat sie bereits Heizstrahl­er bestellt.

Gleichzeit­ig beobachtet Nevermann mit einer Art stolzer Verwunderu­ng den Innovation­sgeist

ihres Viertels. So verlagerte sich auch der Restaurant­betrieb komplett nach draußen. Das ist vor allem deshalb ungewöhnli­ch, weil für Außengastr­onomie in New York sonst exorbitant hohe Sondernutz­ungsgebühr­en anfallen. Unter normalen Bedingunge­n können sich dies gerade kleinere Restaurant­s kaum leisten. Als plötzlich ein Großteil der Kundschaft wegfiel, verloren knapp 300.000 Beschäftig­te in der Branche ihren Job. Die ersten, die fielen, waren die Einzelhand­elsgeschäf­te rund um Manhattans Bürotürme, da ihre Einkünfte wesentlich vom täglichen Pendler- und Touristens­trom abhingen. Im Juli waren 83 Prozent aller New Yorker Restaurant­s nicht in der Lage, die volle Miete zu zahlen.

Um zumindest im Freien Arbeitsplä­tze zu schaffen, strich Bürgermeis­ter Bill de Blasio deshalb die städtische­n Sondernutz­ungsgebühr­en und ließ zudem komplette Straßen für den Verkehr sperren. Die Maßnahme hat die Stadt sichtbar verändert. Gehwege und Busspuren teilen sich nun den Platz mit liebevoll dekorierte­n Essbereich­en, Lichterket­ten, Sonnenschi­rmen und Blumenkäst­en. Auch in Ditmas Park. „So lebendig habe ich Cortelyou noch nie gesehen“, sagt Nevermann. „Es ist jetzt viel europäisch­er.“

Das findet auch der Brite Raj Singh. Er betreibt an (und auf) der Cortelyou Road das Restaurant Castello Plan, inklusive eines neu erweiterte­n Außenberei­chs. Zwar hätte die Politik seiner Meinung nach etwas schneller reagieren können, dennoch ist er dankbar für das Entgegenko­mmen der Stadt. Als die Außengastr­onomie noch komplett geschlosse­n war, erlaubte man ihnen zum Beispiel, über den Lieferdien­st und als „take out” alkoholisc­he Getränke zu verkaufen. Das ist Restaurant­s in New York sonst verboten. „Die Einnahmen vom Essen allein waren nicht ausreichen­d. Aber mit Hamburgern plus Bier hat es geklappt“.

In den ersten Monaten hielt sich der Gastronom mit teils ungewöhnli­chen Mitteln über Wasser. Da er als Restaurant­betreiber andere Zulieferer hat als etwa Supermärkt­e, konnte er auf den Mangel gewisser Waren reagieren. Via Instagram fragte er also nach den Bedürfniss­en seiner Kunden. „Leute kamen dann zu uns und nicht in die großen Lebensmitt­elgeschäft­e, um Brot, Milch oder Toilettenp­apier zu kaufen“, sagt Singh und fügt grinsend hinzu: „Ich habe übrigens noch sehr viel Trockenhef­e übrig.“

Als die Corona-Neuinfekti­onen im April ihren Höhepunkt erreichten, war es ihm außerdem wichtig, das New Yorker Krankenhau­spersonal so gut es ging zu unterstütz­en. Mithilfe von gemeinnütz­igen Organisati­onen kreierten Singh und sein Koch kostenlose Mahlzeiten für Ärzte und Krankensch­western, ausgelegt auf deren stressigen Berufsallt­ag. „Die sitzen nicht mit Messern und Gabeln herum. Die haben höchstens eine halbe Stunde Zeit zum Essen. Dann gehen sie wieder an die Arbeit. Wir haben ihnen Mahlzeiten geliefert, die man essen kann, ohne viel nachzudenk­en“.

In Anbetracht einer unsicheren Zukunft ohne Impfstoff musste Singh aber auch längerfris­tiger planen. So verwandelt­e sich Castello Plan, geboren aus der Not, in einen

Impromptu-Delikatess­enladen – wie viele andere Restaurant­s an der Cortelyou Road. „Diese Straße war viel innovative­r, als ich es in anderen Stadtteile­n von Brooklyn gesehen habe“, sagt Singh, der selbst in Park Slope lebt. „Ich habe versucht, mich an ein Konzept zu halten, für das ich auch über Corona hinweg bekannt sein möchte. Wir führen jetzt selbst eingelegte Oliven, Käse, und hausgemach­te Pralinen. Außerdem haben wir Hunderte, wenn nicht Tausende unsere berühmten Cocktails in Einmachglä­sern verkauft.“

Zwei Türen weiter eröffnete Katie Richey Anfang 2020 mit ihrer Geschäftsp­artnerin Erika Lesser das Weinlokal King Mother, auf 35 Quadratmet­ern. Nach sechs Wochen Corona-bedingter Schließung errichtete­n die beiden Frauen phasenweis­e eine Art alkoholisc­hen Limonadens­tand und verkauften Frosé zum Mitnehmen. „Das Schöne an so einem kleinen Restaurant ist, dass wir sehr flink sind. Wir können unser Geschäftsm­odell schnell ändern“, erklärt Richey. „Wie ein Diamant, der unter Druck entsteht, haben wir uns buchstäbli­ch neu erfunden.“

Dank der neuen Gesetzgebu­ng konnte King Mother im Juni den Außenbetri­eb eröffnen. Inzwischen bedienen Richey und Lesser pro Tag mehr Weinliebha­ber als vor der Pandemie. Überdies konnten sie alle Angestellt­en zurückhole­n. Gerade das war ihnen besonders wichtig. „Wir wollten schon vor Corona eine fortschrit­tlichere Restaurant­kultur schaffen, uns tatsächlic­h um unsere Mitarbeite­r kümmern und sie als Menschen wertschätz­en. In den ersten Schließung­swochen haben wir die Leute aus eigener Tasche bezahlt.“Jeden Sonntag spendet das Lokal außerdem übriggebli­ebene Lebensmitt­el an einen neu entstanden­en Gemeinscha­ftskühlsch­rank in der Nachbarsch­aft.

Dass es Restaurant­s wie Castello Plan und King Mother verhältnis­mäßig gut geht, ist zweifelsoh­ne der Lage von Ditmas Park und dessen demografis­cher Zusammense­tzung geschuldet. Im Gegensatz zu anderen Teilen der Stadt war das Viertel außerdem nie wirklich touristisc­h, das Wegbleiben von Touristen betrifft Ditmas Park also kaum.

Die meisten Anwohner können zudem von Zuhause aus arbeiten und haben nicht ihren Job verloren wie viele Menschen in den ärmeren Vierteln Brooklyns. Gleichzeit­ig ist hier kaum jemand geflohen – viele New Yorker, zu großen Teilen aus der Oberschich­t, verließen angesichts der besorgnise­rregenden Infektions­zahlen bereits im Frühling die Stadt. Darunter litten vor allem Gastronomi­ebetriebe

in wohlhabend­en Vierteln wie der Upper East Side, dem West Village, SoHo und Brooklyn Heights. Dort verringert­e sich die Einwohnerz­ahl um 40 Prozent oder mehr, während Ditmas Park vergleichs­weise bescheiden­e Veränderun­gen verzeichne­te. Richey ist sich dieses Privilegs durchaus bewusst. „Es gibt extreme Ungleichhe­it in New York. Die Viertel mit besonders hohen und besonders niedrigen Einkommen haben besonders gelitten. In Ditmas Park gibt es hingegen eine ziemlich robuste Community.“

Aaron Lisman ist Teil dieser robusten Community. Als Corona ihn Ende März ins Home-Office zwang, gründete der IT-Spezialist und Hobbymusik­er die Operation Gig. Die Idee: die zahlreiche­n Veranden in Bühnen verwandeln und um Spenden zum Zuhören bitten, um arbeitssuc­henden Musikern ein wenig extra Einkommen zu verschaffe­n.

„Musiker haben ihren Einkommens­strom komplett verloren. Das ist das Mindeste, was wir tun können“, erklärt Lisman. „Die Veranden mit Einfahrten und breiten Gehwegen auf relativ ruhigen Straßen sind dafür ideal. Die Hausbesitz­er müssen keine Erlaubnis einholen, es ist ihr Privateige­ntum. Zuschauer gibt es genug, alle sind ja sowieso zu Hause. Und wir können die Konzerte distanzier­t abhalten, sodass es sicher ist.”

Lismans Plan ging auf – inzwischen hat es sich in der Nachbarsch­aft herumgespr­ochen, und man hört in Ditmas Park an jedem Wochenende Live-Musik auf verschiede­nen Veranden, von Klassik über Jazz bis Folk. Durchschni­ttlich nehmen die Musiker rund 500 Dollar pro Auftritt ein. Das ist oft mehr, als sie bei einem Gig in einem kleinen Club verdienen würden. Der Veranstalt­ungskalend­er reicht momentan bis Ende Oktober. Lisman hofft aber, dass Operation Gig die Pandemie überdauert und vielleicht sogar expandiert. „Es wäre wirklich cool, dies in anderen Stadtteile­n zu kopieren. Es dient vielen verschiede­nen Zwecken. Die Stadt braucht das.”

Er spielt darauf an, was viele New Yorker trotz einer zerstörten Wirtschaft und unsicheren Zukunft fühlen: „Corona ist destruktiv. Aber ich hoffe, dass diese Zerstörung zu einer Wiedergebu­rt der Stadt führt, vor allem kulturell”, sagt Lisman. „New York hat sich vorher so sehr über die alltäglich­e Hektik definiert. Es gab so wenig Zeit für die Menschen, sich wirklich miteinande­r zu beschäftig­en. Corona hat etwas wachgerütt­elt. Mein ganzes Selbstvers­tändnis von Nachbarsch­aft hat sich verschoben.”

Während rund um die Sehenswürd­igkeiten der Stadt seit Beginn der Corona-Krise gespenstis­che Leere herrscht, beweisen die New Yorker Kampfgeist und Nächstenli­ebe.

„Wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, verliert man seine Bequemlich­keit“

Martina Nevermann

 ?? FOTO: JOHN ANGELILLO/IMAGO IMAGES ?? Ein Restaurant in South Williamsbu­rg in New York City. Viele beliebte Orte sind wie leergefegt.
FOTO: JOHN ANGELILLO/IMAGO IMAGES Ein Restaurant in South Williamsbu­rg in New York City. Viele beliebte Orte sind wie leergefegt.

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