Falkner für einen Tag
Die südliche Lüneburger Heide ist reich an Wacholderwäldern, Flüssen und Orten völliger Ruhe und Einsamkeit. Im Wildpark Müden kommt man Tieren so nahe wie nie. Wer sich sportlich betätigen möchte, sollte eine Kanutour auf der Aller unternehmen.
Es ist ein unmerkliches Wachsen. Am Anfang ist sie fast noch ein Flüsschen, die Bäume hängen tief, das hier hat etwas Verwunschenes, wie aus der Serie „Geheimnisvolle Landschaften“, es schillert in zahllosen Grüntönen. Plötzlich taucht eine Brücke auf, deren Streben schon bemoost sind, von Grünspan überzogen. Doch irgendwann wird sie breit und breiter, und dann zeigt die Aller, dass sie das Zeug zum Strom hat – und tatsächlich: Sie ist der ergiebigste Nebenfluss der Weser.
Wir lassen uns von Mark Gordon von der Firma „Kanuvermietung Aller“am Bootshaus Rodenwaldt abholen. Der erfahrene Skipper kutschiert uns zur Schleuse nach Langlingen, von wo aus wir Richtung Celle unterwegs sind und nach knapp zehn Kilometer in Wienhausen, nahe dem berühmten Kloster, wieder an Land gehen. Man sollte solche Touren als Novize nicht unterschätzen: Ein Paar, das zum ersten Mal Kanu fährt, steht nach 30 Minuten unkoordinierten Paddelns möglicherweise kurz vor der Trennung. „Links?“– „Nein, du musst rechts einstechen, wenn du die Biegung schaffen willst.“– „Fahr doch nicht so nah ans Ufer!“– „Wir müssen links. Liii-hiinks!“– „Pass doch auf, wir rammen den Ast.“
Dann aber gewinnt man Erfahrung, die Balance wird immer besser, die Dynamik auch, und schon macht Zweierkanadier richtig Spaß. Alles so ruhig hier, so entspannt, so gelassen. Kühe, Wisente und Pferde schauen desinteressiert vom Ufer herüber, ebenso Schwäne und Gänse, anderswo winken Radfahrer. Kanuten sind hier keine Seltenheit, die Aller ist diesseits und jenseits von Celle an allen Ecken ein Paradies für Anfänger und Fortgeschrittene. Obwohl, Ecken hat sie eben nicht, nur Kurven, und die muss man zu nehmen wissen, wenn plötzlich von vorn die „Wappen von Celle“auftaucht, ein Ausflugsschiff, das Passagieren eine gewisse maritime Anmutung verschafft und in besseren Zeiten für Geburtstage gebucht werden konnte.
Die Südheide, also der südliche Teil der Lüneburger Heide, ist reich an verborgenen Schätzen und noch reicher an Einsamkeit. Den Löns-Stein nordöstlich von Hermannsburg kennt ja nun fast jeder, der sich für Heimatdichter interessiert, aber ein paar Kilometer
weiter liegt der Wildpark in Müden (Örtze), das zur Gemeinde Faßberg gehört (die mit dem Luftbrückenmuseum). Dort gibt es ein famoses Angebot: Falkner für einen Tag. Wer normalerweise Raubvögel nur vom stieren Blick gen
Himmel kennt, erlebt sie hier hautnah, poetisch gesprochen: Man erlebt Greifvögel zum Greifen nah. Mit Falknerin Ricarda Pietrusky und ihren Kollegen kann man aber auch selbst das rauschende Gefieder am Ohr spüren, wenn man nämlich diesen ledernen Armschutz trägt und selbst in unmittelbaren Kontakt mit dem Tier kommt. Wer lieber ehrfürchtig Abstand hält, kommt allerdings bei den regelmäßigen Flugschauen zu seinem staunenden Vergnügen.
Der Wildpark ist natürlich kein ausgewachsener Zoo, hat aber viel zu bieten, und Familien werden wirklich vorbildlich betreut. Es gibt Muffelwild, Marderhunde, Alpakas, Riesenkaninchen, Leineschafe, Wildschweine, Ziegen, Heidschnucken,
Damwild, Frettchen, etliche Vögel – und es gibt den Kordillerenadler Silvan, den Liebling vieler Besucher. Neulich gab es einen großen Schreck in der gesamten Südheide, denn Silvan war ausgeflogen. Einige Kilometer entfernt wurde er wenige Tage später von einer Tierärztin eher zufällig gesichtet, und Falknerin Ricarda machte sich auf, rief mehrmals den Namen des Tieres (das ornithologisch, obwohl Kordillerenadler, zu den Bussarden zählt) – und schon kam Silvan dankbar angerauscht. Etwas abgemagert, der Gute. Nach ein paar Tagen war er wieder aufgepäppelt. Die Südheide, deren Wappentier er insgeheim ist, atmete auf.
Diese malerische Gegend entzückt den Großstadtmenschen vor allem durch ihre vielen Wanderwege, die den morschen Knochen und Gelenken zur Freude sehr oft auf heidesandigem Untergrund verlaufen. Die Wacholderheide bei Faßberg ist eine solche Verwöhnlandschaft. Kaum ist man durch den Schäferwinkel Schmarbeck gerauscht (ein weiterer Stadtteil von Faßberg) und hat das gute alte Kopfsteinpflaster genossen – perfekter Stoßdämpfertest –, eröffnet sich die Weite der Heidelandschaft in ihrer schönsten Unmittelbarkeit. Überall summt und piept es. Natur für Entdecker.
Die Faßberger sind übrigens von gewitztem Gemüt. Auf einem Wanderweg baut sich ein richtiges Gipfelkreuz auf, denn es handelt es sich um den höchsten Punkt im absoluten Flachland. Irgendwo muss der Faßberg ja auch abgeblieben sein. Ein Ausflug auf das Gipfelchen mit Eintrag ins Gipfelbuch lohnt in jedem Fall, denn hier erstreckt sich einer der größten und schönsten Wacholderwälder Europas. Radfahrer und Wanderer finden ein bestechendes Angebot an gut beschilderten Wegen, auch der Heidschnuckenweg, 2014 zum schönsten Wanderweg Deutschlands gewählt, führt durch den Wacholderwald.
Eine wirkliche Erhebung ist hingegen der Haußelberg, der ebenfalls vom Heidschnuckenweg gekreuzt wird. Er erhebt sich auf furchteinflößende 117 Meter, vom Gipfel (wieder mit Gipfelbuch) hat man einen schönen Überblick über die südliche Heide. Den nutzte mal der berühmte Naturwissenschaftler Carl Friedrich Gauß für Landvermessungen, nämlich für sein weltberühmtes Dreiecksnetz. Das war auf der Rückseite der 10-DM-Banknote der vierten Serie der Deutschen Mark abgebildet. Untergebracht war Gauß übrigens sehr einfach, in Oberohe (gleichfalls Gemeinde Faßberg): „Dort lebte eine Familie, deren Haupt Peter Hinrich von der Ohe zur Ohe sich schreibt, dessen Eigentum vielleicht eine Quadratmeile groß ist, dessen Kinder aber die Schweine hüten. Manche Bequemlichkeit kennt man dort gar nicht, zum Beispiel einen Spiegel, einen Abort oder dergleichen.“
Neulich war in Faßberg doch etwas los, denn Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer inspizierte den dortigen Fliegerhorst, der sehr einträchtig-harmonisch unter anderem von deutschen und französischen Hubschrauberpiloten zur Aus- und Weiterbildung genutzt wird. Als AKK ins Rathaus fuhr, rauschten dunkle Limousinen in Rekordtempo über die Große Horststraße, die Hauptstraße des Städtchens. Danach kehrte wieder diese Ruhe ein, für die mancher hierhin kam und fast nicht mehr wegwollte.