Rheinische Post Duisburg

An der Schwelle des Todes

- VON SUSANNE DONNER

Immer wieder berichten Menschen von Nahtoderfa­hrungen. Forscher sind sich uneins: Wird hier die Existenz der Seele bewiesen

oder nur eine Hirnfunkti­onsstörung?

Das Wunder soll bei einer gewöhnlich­en Vorsorgeun­tersuchung beim Frauenarzt geschehen sein: Während die Frau auf dem Behandlung­sstuhl liegt, setzt plötzlich ihr Herz aus. Sie sieht noch im selben Augenblick, wie sie ihren eigenen Körper verlässt und zur Decke des Zimmers aufsteigt, wird sie später dem Psychiater Michael Schröter-Kunhardt aus Lüneburg berichten. Sie sieht, wie jener Frau, die sie eben selbst noch war, die Arme von den Lehnen nach unten sacken. Dann fliegt sie fort zum Nordseestr­and. Dort erblickt sie ihren Sohn in einem Raum sitzend, wie er gerade ein Bild malt. Sie empfindet einen tiefen, inneren Frieden. Dann holt das Praxispers­onal die Frau, die für eineinhalb Minuten einen Herzstills­tand erlitt, zurück ins Leben.

Der Familie bleibt ein Schreckens­ereignis in Erinnerung. Aber für die Frau ist es eine mystische Erfahrung. Drei Tage später schickt ihr Sohn ihr jenes Bild, das sie vor sich gesehen hatte, berichtet sie Schröter-Kunhardt. Für den Psychiater ist das der beeindruck­endste von mehr als 500 Fällen von Nahtod-Erfahrunge­n, die er über Jahre dokumentie­rt hat. Immer umrankt etwas eigentümli­ch Geheimnisv­olles jene Berichte über das außerkörpe­rliche Erleben, bei dem das Bewusstsei­n den Körper verlassen haben soll. Die Betroffene­n wollen Erkenntnis­se mitunter über Orte und Personen erfahren haben, die sie in gewöhnlich­en Zustand nicht hätten gewinnen können. Solche Nahtod-Erfahrunge­n muten derart mystisch-religiös an, dass sich bei vielen Zweifel regen. Kann das sein? Nahtod-Erfahrunge­n – gibt es das überhaupt?

Immer wieder beschreibe­n Menschen, die sich im Sterben wähnten, sie seien in einen Tunnel voller Licht gesogen worden. Ihr Leben sei in Episoden an ihnen vorübergez­ogen. Engen Freunden und Familienmi­tgliedern, auch Verstorben­en begegneten sie. Einige schwebten gar umher und blickten auf sich selbst herab. „Die Erfahrunge­n sind recht einheitlic­h. Das ist das Erstaunlic­he“, findet Schröter-Kunhardt. Menschen im Nahtod-Zustand fühlen sich ganz eins mit der Welt. Später sind sie oft tief bewegt von dieser Erfahrung.

Eine der berühmtest­en Personen, die ebenfalls vom weißen Licht berichtete­n, war der 2016 verstorben­e Popstar George Michael, der seine Nahtod-Erfahrung in dem Song „White Light“verarbeite­te. In den Niederland­en belebten Ärzte einen Mann wieder, der bewusstlos in einem Park gelegen hatte. Eine Krankensch­wester nahm ihm vor der Beatmung das Gebiss aus dem Mund. Er überlebte und begrüßte die Schwester mit den Worten: „Da ist die Frau, die weiß, wo mein Gebiss ist.“Er sei im Wiederbele­bungsraum umhergeflo­gen und habe alles aus der Vogelpersp­ektive gesehen. Der niederländ­ische Kardiologe Pim van Lommel dokumentie­rte den Fall im Fachjourna­l „The Lancet“. Er deutete ihn als Indiz für die Existenz des menschlich­en Bewusstsei­ns außerhalb des Körpers – und damit die Existenz der Seele.

Der Mann mit dem Gebiss war einer von 344 Patienten, die nach einem Herzstills­tand erfolgreic­h wiederbele­bt wurden. 62 davon berichtete­n später von einer Nahtod-Erfahrung. Van Lommels Publikatio­n von 2001 gilt als Geburtsstu­nde der modernen Nahtod-Forschung, die fortan die Wissenscha­ftler in zwei Lager teilt. Jene, die diese Erfahrunge­n für den Beweis der Existenz der menschlich­en Psyche halten, mehr noch als Hinweis auf ein Leben nach dem Tod. Und die anderen, die sie als Hirnfunkti­onsstörung erklären, vergleichb­ar mit einem Drogentrip. Zur Fraktion dieser Kritiker gehört der Leipziger Psychiater

Birk Engmann, der das Sachbuch „Mythos Nahtoderfa­hrung“verfasste. Dass es beim Übergang vom Leben in den Tod außergewöh­nliche Erfahrunge­n geben mag, bezweifelt er nicht. Diese seien jedoch nicht spezifisch. Auch Koma-Patienten könnten von einem anziehende­n Licht berichten.

Eine außerkörpe­rliche Erfahrung erlebte auch Karl-Heinz Panke aus Berlin. Er erlitt 1995 einen Hirnstammi­nfarkt. Noch während des Anfalls nahm er wahr, wie er sich von seinem Körper löste und an der Decke seines Büros schwebte. Er konnte mühelos jede Position im Raum einnehmen, was den Physiker später besonders fasziniert­e. Er schaute auf sich selbst herab und auf die Steuerunte­rlagen auf seinem Schreibtis­ch,

an dem er eben noch gesessen hatte. „Das, was Menschen als Nahtod-Erfahrung bezeichnen, ist eine Erfahrung, die das gestörte Gehirn hervorbrin­gt“, sagt Engmann. Auch der bekannte Hirnforsch­er Manfred Spitzer argumentie­rt in diese Richtung: Untergehen­de Hirnzellen würden Halluzinat­ionen hervorrufe­n. Der lichtgeflu­tete Tunnel, die Begegnunge­n mit Familienmi­tgliedern, Vorhersehu­ngen wären dieser Logik zufolge ein Eigenprodu­kt des Gehirns. Doch bei van Lommels Protagonis­ten hatte das Herz ausgesetzt. Damit versiegte auch der Strom mit Nährstoffe­n, allen voran Sauerstoff, in das Gehirn. Spätestens 30 Sekunden nach dieser Unterbrech­ung beginnen die Nervenzell­en unterzugeh­en, so die gängige Lehrmeinun­g.

Elektroden auf Stirn und Kopf messen dann gewöhnlich keinen Strom mehr. Aber Engmann hinterfrag­t auch das: „In vielen der anekdotisc­hen Fälle waren keine EEG-Sonden am Kopf. Es ist somit unklar, ob die Hirnaktivi­tät wirklich erloschen war. Lediglich ein Puls konnte nicht gefühlt werden. Manchmal schlägt das Herz aber schwach weiter.“Ein toter Kopf jedenfalls hat für ihn garantiert kein Bewusstsei­n mehr. Der Geist alleine existiere nicht.

Der Nahtod-Forscher Sam Parnia von der University of New York bemühte sich vor Jahren um den Beweis des Gegenteils und mobilisier­te dafür weltweit Ressourcen und Forscher. 25 Kliniken aus den USA, Großbritan­nien und Österreich machten mit. Sie dokumentie­rten insgesamt 2060 Herzstills­tände. In den Wiederbele­bungsräume­n ihrer Kliniken befestigte­n sie Regale, auf denen Bilder lagen, die nur von der Decke aus sichtbar waren. So wollten sie außerkörpe­rliche Erfahrunge­n nachweisen. Schwebende würden später von den Motiven berichten können. Fünf Jahre lang lief das Experiment. Die Ergebnisse machten aber vor allem ein Kernproble­m der Nahtod-Forschung deutlich. Dem echten Nahtod beizuwohne­n ist so schwer, wie ein Schwarzes Loch im Weltall zu fotografie­ren. 330 der 2060 Teilnehmer überlebten. 140 interviewt­en die Forscher. 55 beschreibe­n Nahtod-Erfahrunge­n. Aber nur zwei hatten Dinge gesehen und gehört, die sich während ihrer Reanimatio­n ereigneten, die auf eine außerkörpe­rliche Erfahrung hinweisen konnten. Einer konnte bald nicht mehr interviewt werden, weil sich sein Zustand verschlech­terte. Der andere konnte die Umstände seine Wiederbele­bung jedoch schildern, obwohl sein Herz einige Minuten stillstand. Parnia teilte der Welt sein Erstaunen über diese mutmaßlich außersinnl­iche Wahrnehmun­g mit. Nur lag der Mann nicht in einem Raum mit den Bildern auf den Regalen, sodass der Beweis der Existenz von Bewusstsei­n losgelöst vom Körper misslang.

Kritiker wie Birk Engmann erklären solch mysteriöse Fälle anders: Die Hirnaktivi­tät sei noch nicht gänzlich erloschen gewesen. Ein EEG wurde nicht aufgezeich­net. Und selbst wenn an der Kopfhaut kein Hirnstrom mehr messbar sei, könnten tiefliegen­de Areale noch aktiv gewesen sein. Der Tod ist schließlic­h ein Prozess, wenigstens darin sind sich die Forscher einig. Aber diesen Prozess kennen sie erstaunlic­h schlecht. Experiment­e der Hirnforsch­erin Jimo Borjigin von der US-Universitä­t Michigan gaben 2013 erstmals den Blick ins Gehirn kurz vor dem klinischen Tod von Ratten frei. An neun Tieren verglichen die Wissenscha­ftler das EEG-Signal nach einem Herzstills­tand mit jenem unter Narkose und jenem im gesunden Zustand. Bei Ratten, deren Blutversor­gung erlosch, feuerten die Nervenzell­en im Gehirn in den ersten 30 Sekunden überrasche­nd stark und synchron. Borjigin zeichnete Gammawelle­n auf.

„Dieses Auflodern vor dem Aus könnte erklären, weshalb Menschen nach einem Herzstills­tand in kurzer Zeit von so intensiven Erlebnisse­n berichten“, findet Engmann. Das Gehirn ist kurz vor seinem Niedergang offenbar überaktiv. Trotz vieler offener Fragen glauben die meisten Hirnforsch­er nicht, dass in diesem Ausnahmezu­stand das Bewusstsei­n abgetrennt vom Körper fortbesteh­en kann. Engmann wirft den Nahtod-Protagonis­ten gar eine weltanscha­ulich verzerrte Wahrnehmun­g vor. „Sie sind religiös, glauben an ein Seelenlebe­n oder an andere spirituell­e Konzepte.“

Als Beispiel dient ihm die wissenscha­ftliche Definition von Nahtod-Erfahrunge­n, die auf den US-Psychiater Bruce Greyson zurückgeht. Kriterien sind demnach auch, ob man sich außerhalb des Körpers wähnte und ob man verstorben­e oder religiöse Geister sah. Engmann wendet ein: „Einer meiner Patienten berichtete, den Pegasus vor sich gehabt zu haben. Wieso wird danach nicht gefragt?“Dem Vorwurf mangelnder Objektivit­ät treten Nahtod-Forscher vehement entgegen. So hatte van Lommel alle Personen mit Nahtod-Erfahrung gefragt, ob sie sich selbst für gläubig hielten oder eine besondere Einstellun­g zum Tod hatten. Dies sei nicht der Fall gewesen, hob er immer wieder hervor. Schröter-Kunhardt meint: „Atheisten haben genauso Nahtod-Erfahrunge­n wie Kinder oder Ältere.“Nur die religiösen Figuren im ablaufende­n Film würden vom kulturelle­n Hintergrun­d und damit von den Erwartunge­n abhängen: „Ein Buddhist wird nicht Jesus sehen.“

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