Intensivmediziner fordern einen Notbetrieb
Immer mehr Corona-Patienten liegen in NRW auf Intensivstationen. Die Politik muss für die sichere Versorgung handeln, so Experten.
BERLIN Die drastisch gestiegenen Corona-Infektionszahlen haben bereits zu einer Verschärfung der Lage auf den Intensivstationen geführt. Wurden vor vier Wochen noch rund 90 Corona-Patienten auf Intenstivstationen in Nordrhein-Westfalen behandelt, waren es am Donnerstag bereits 471. Insgesamt war die Zahl in Deutschland in dem Zeitraum von 352 auf 1697 Fälle gestiegen. Angesichts dieser Entwicklung haben führende Intensivmediziner jetzt die Politik aufgefordert, per Verordnung den Corona-Notbetrieb wie im Frühjahr zu ermöglichen, bei dem planbare Operationen ausgesetzt und finanzielle Nachteile für die Kliniken entschädigt werden.
Es gebe bislang keine regulatorischen Maßnahmen von staatlicher Seite, dass Krankenhäuser schrittweise auf den Corona-Notbetrieb umstellen könnten, sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens. Es sei keine finanzielle Kompensation in Aussicht gestellt worden, weshalb die meisten Kliniken aus Sorge vor großen Einnahmeverlusten das Routineprogramm vollumfänglich fortführten. Das steigere den Druck auf die Intensivmedizin außerordentlich, sagte Janssens am Donnerstag in Berlin. Er ist zudem Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler bei Aachen.
Laut dem am Mittwoch gefällten Bund-Länder-Beschluss heißt es dazu lediglich, dass die Krankenhäuser „weiterhin bei der Bereitstellung von Intensivbetten unterstützt werden“sollen. Außerdem: „Die Gesundheitsminister
von Bund und Ländern werden zeitnah praktikable Lösungen erarbeiten, die auch die Fortführung finanzieller Unterstützungen enthalten soll.“
Das NRW-Gesundheitsministerium sieht nach eigenen Angaben derzeit noch keinen Bedarf, eine seit Ende April gültige Empfehlung an die Krankenhäuser zu ändern. Darin werden die Kliniken an Rhein und Ruhr angehalten, sogenannte elektive Eingriffe möglichst zu verschieben und zehn Prozent der Intensivkapazitäten für Corona-Patienten durchgehend freizuhalten. Bei Bedarf sollen diese binnen 24 oder 48 Stunden um jeweils weitere zehn Prozent aufgestockt werden können. Für die Kliniken bedeutet das einen erheblichen organisatorischen Aufwand und finanzielle Nachteile, da auch auf Normalstationen entsprechend Kapazitäten gebunden werden und Einnahmen wegfallen.
Aus diesem Grund fordert der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, nun von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Wiedereinführung der sogenannten Freihaltepauschale. Ende September war diese ausgelaufen. „Die Krankenhäuser haben im Frühjahr bewiesen, wie schnell sie Kapazitäten freibekommen können“, sagte Gaß unserer Redaktion. Zudem habe man heute mehr technische Kapazitäten aufgebaut, als man sie im März hatte. Freihaltequoten seien in dieser Situation sinnvoll und müssten mit entsprechenden finanziellen Sicherheiten für die Krankenhäuser flankiert werden. „Die Wiedereinführung der Freihaltepauschale ist zwingend, damit die Krankenhäuser in finanzieller Hinsicht den Rücken freihaben“, sagte Gaß. „Wir wollen anders als im
Frühjahr keinen flächendeckenden und unkoordinierten Lockdown in den Kliniken.“Dies würde gestuft und vor Ort besser abgestimmt erfolgen, sagte Gaß.
Nach Einschätzung des Intensivmediziners Janssens waren die Beschlüsse von Bund und Ländern richtig und überfällig. Er sprach von einer insgesamt noch beherrschbaren Situation im Gesundheitssystem, sollten die Infektionszahlen in den kommenden Wochen nicht weiter unkontrolliert ansteigen. Zugleich teilte er die Ansicht von Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er sprach am Donnerstag von einer „absolut besorgniserregenden“Lage. Von den Infizierten müssten etwa fünf Prozent im Krankenhaus behandelt werden, zwei Prozent auf der Intensivstation, so Kluge. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisiko von über 50 Prozent.
Dabei ist das Problem in NRW und Deutschland nicht so sehr die Anzahl der Intensivbetten. „Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie“, sagte Janssens. Es gebe aber nicht genug Personal, das sich um die Patienten kümmern könnte. Er forderte daher, die Pflegepersonal-Untergrenze wieder auszusetzen, wenn die Infektionszahlen weiter ansteigen. Die Vereinigung Divi führt ein Register, das die bundesweit freien Intensivbetten anzeigt. Daraus geht jedoch nicht hervor, wie viele der Betten tatsächlich betrieben werden könnten, weil Personalmangel nicht eingerechnet ist. Janssens forderte die Krankenhäuser deshalb dringend auf, nur bepflegbare Bettenkapazitäten anzugeben, um mehr Transparenz und auf diese Weise echte Planungssicherheit zu bieten.