Ein Streit ums Leben
Polen verschärft sein Abtreibungsrecht, die USA bekommen eine christlich-konservative Richterin.
Die Lebensschützer jubeln. Zugleich aber stellt sich die Frage, ob hier ein ethisches Problem politisch vereinnahmt wird.
In Polen ist das Thema akut und treibt Menschen auf die Straße: Das Verfassungsgericht hat das ohnehin schon strenge Abtreibungsrecht des Landes weiter verschärft. Die Obersten Richter halten Schwangerschaftsabbrüche aufgrund schwerer Fehlbildungen des Ungeborenen für unvereinbar mit der Verfassung. Nur wenn eine Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet oder Ergebnis einer Vergewaltigung ist, soll ein Abbruch noch legal sein. Im vergangenen Jahr gab es in polnischen Kliniken 1110 Abtreibungen; 1074 davon wurden mit Fehlbildungen des Fötus begründet. Die neue Entscheidung bedeutet also, dass es in dem katholisch geprägten Land kaum noch legale Abtreibungen geben wird. Am Freitag wurde wieder protestiert.
Auch in den USA könnte das Abtreibungsrecht wieder auf die politische Tagesordnung kommen. Kurz vor der Wahl hat Präsident Donald Trump mit der konservativen Juristin Amy Coney Barrett eine strenge Katholikin in den Supreme Court gebracht – auch ein Zeichen an die größte Gruppe seiner Wählerschaft: evangelikale Christen, die ein strengeres Abtreibungsrecht wünschen.
Eine hochsensible ethische Frage ist vielerorts zum Politikum geworden. Vor allem in den USA stehen sich Vertreter der gegensätzlichen Positionen teils hasserfüllt gegenüber. Die Pro-Choice-Aktivisten, die dafür eintreten, dass Frauen über den Fortgang ihrer Schwangerschaft selbst entscheiden, befürchten, von konservativen Kräften in traditionelle Rollenmuster gedrängt zu werden. Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper abzusprechen, ist in ihren Augen nur der erste Punkt einer politischen Agenda, deren Ziel der konservative Umbau der gesamten Gesellschaft ist.
Die Pro-Life-Bewegung tritt für den Schutz ungeborenen Lebens ein, engagiert sich oft auch gegen Sterbehilfe,
gewisse Techniken der Gentechnologie und Pränataldiagnostik – also gegen Angebote, die durch technischen Fortschritt möglich werden. Vertreter dieser Richtung haben deswegen teils das Gefühl, gegen den Zeitgeist ankämpfen zu müssen, und wähnen sich in einem Kulturkampf, der mit der sexuellen Revolution rund um das Jahr 1968 scheinbar zu ihren Ungunsten entschieden wurde. Das macht kämpferisch.
Im Grunde aber lassen sich die widerstreitenden Positionen auf die Frage zurückführen, wann Leben beginnt. Für Frauenrechtlerinnen ist ein Fötus im Zellstadium Teil des weiblichen Körpers, über den die Frau selbst bestimmen darf. Für Abtreibungsgegner ist mit dem Moment der Befruchtung einer Eizelle Leben entstanden, das es zu schützen gilt – auch gegen den Willen der Frau.
Es sei wissenschaftlich keineswegs unumstritten, wann Leben beginnt, sagt der Medizinhistoriker Robert Jütte, der eine Geschichte der Abtreibung herausgegeben hat. Im Laufe der Geschichte und mit dem Wissensstand der Medizin wurde die Grenze immer wieder verschoben. „Es wäre gut, diese Frage im historischen Kontext zu sehen, dann wüsste man, dass es für den Lebensbeginn keine absolute Grenze gibt“, sagt Jütte. Der Umgang mit Abtreibung sei eine Frage der Diskursethik. „Eine Gesellschaft muss entscheiden, wo sie Grenzen zieht – und kann sie auch wieder verschieben.“
Dieser gesellschaftliche Diskurs wird in Deutschland in Abständen geführt. Zuletzt etwa, als es darum ging, ob Ärzte dafür werben dürfen, wenn sie Abtreibungen vornehmen. Seit den 90er-Jahren gilt hierzulande eine Fristenlösung mit Beratungspflicht. Das heißt: Ein Abbruch bleibt innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen straffrei, wenn die Frau an einer Konfliktberatung teilgenommen und danach eine dreitägige Bedenkzeit eingehalten hat. „Die deutsche Regelung ist eine Kompromissformel, die im Parlament gefunden
„Eine Gesellschaft muss entscheiden, wo sie Grenzen zieht“
Robert Jütte Medizinhistoriker