Rheinische Post Duisburg

Ein Streit ums Leben

- VON DOROTHEE KRINGS

Polen verschärft sein Abtreibung­srecht, die USA bekommen eine christlich-konservati­ve Richterin.

Die Lebensschü­tzer jubeln. Zugleich aber stellt sich die Frage, ob hier ein ethisches Problem politisch vereinnahm­t wird.

In Polen ist das Thema akut und treibt Menschen auf die Straße: Das Verfassung­sgericht hat das ohnehin schon strenge Abtreibung­srecht des Landes weiter verschärft. Die Obersten Richter halten Schwangers­chaftsabbr­üche aufgrund schwerer Fehlbildun­gen des Ungeborene­n für unvereinba­r mit der Verfassung. Nur wenn eine Schwangers­chaft das Leben der Mutter gefährdet oder Ergebnis einer Vergewalti­gung ist, soll ein Abbruch noch legal sein. Im vergangene­n Jahr gab es in polnischen Kliniken 1110 Abtreibung­en; 1074 davon wurden mit Fehlbildun­gen des Fötus begründet. Die neue Entscheidu­ng bedeutet also, dass es in dem katholisch geprägten Land kaum noch legale Abtreibung­en geben wird. Am Freitag wurde wieder protestier­t.

Auch in den USA könnte das Abtreibung­srecht wieder auf die politische Tagesordnu­ng kommen. Kurz vor der Wahl hat Präsident Donald Trump mit der konservati­ven Juristin Amy Coney Barrett eine strenge Katholikin in den Supreme Court gebracht – auch ein Zeichen an die größte Gruppe seiner Wählerscha­ft: evangelika­le Christen, die ein strengeres Abtreibung­srecht wünschen.

Eine hochsensib­le ethische Frage ist vielerorts zum Politikum geworden. Vor allem in den USA stehen sich Vertreter der gegensätzl­ichen Positionen teils hasserfüll­t gegenüber. Die Pro-Choice-Aktivisten, die dafür eintreten, dass Frauen über den Fortgang ihrer Schwangers­chaft selbst entscheide­n, befürchten, von konservati­ven Kräften in traditione­lle Rollenmust­er gedrängt zu werden. Frauen das Selbstbest­immungsrec­ht über ihren Körper abzusprech­en, ist in ihren Augen nur der erste Punkt einer politische­n Agenda, deren Ziel der konservati­ve Umbau der gesamten Gesellscha­ft ist.

Die Pro-Life-Bewegung tritt für den Schutz ungeborene­n Lebens ein, engagiert sich oft auch gegen Sterbehilf­e,

gewisse Techniken der Gentechnol­ogie und Pränataldi­agnostik – also gegen Angebote, die durch technische­n Fortschrit­t möglich werden. Vertreter dieser Richtung haben deswegen teils das Gefühl, gegen den Zeitgeist ankämpfen zu müssen, und wähnen sich in einem Kulturkamp­f, der mit der sexuellen Revolution rund um das Jahr 1968 scheinbar zu ihren Ungunsten entschiede­n wurde. Das macht kämpferisc­h.

Im Grunde aber lassen sich die widerstrei­tenden Positionen auf die Frage zurückführ­en, wann Leben beginnt. Für Frauenrech­tlerinnen ist ein Fötus im Zellstadiu­m Teil des weiblichen Körpers, über den die Frau selbst bestimmen darf. Für Abtreibung­sgegner ist mit dem Moment der Befruchtun­g einer Eizelle Leben entstanden, das es zu schützen gilt – auch gegen den Willen der Frau.

Es sei wissenscha­ftlich keineswegs unumstritt­en, wann Leben beginnt, sagt der Medizinhis­toriker Robert Jütte, der eine Geschichte der Abtreibung herausgege­ben hat. Im Laufe der Geschichte und mit dem Wissenssta­nd der Medizin wurde die Grenze immer wieder verschoben. „Es wäre gut, diese Frage im historisch­en Kontext zu sehen, dann wüsste man, dass es für den Lebensbegi­nn keine absolute Grenze gibt“, sagt Jütte. Der Umgang mit Abtreibung sei eine Frage der Diskurseth­ik. „Eine Gesellscha­ft muss entscheide­n, wo sie Grenzen zieht – und kann sie auch wieder verschiebe­n.“

Dieser gesellscha­ftliche Diskurs wird in Deutschlan­d in Abständen geführt. Zuletzt etwa, als es darum ging, ob Ärzte dafür werben dürfen, wenn sie Abtreibung­en vornehmen. Seit den 90er-Jahren gilt hierzuland­e eine Fristenlös­ung mit Beratungsp­flicht. Das heißt: Ein Abbruch bleibt innerhalb der ersten zwölf Schwangers­chaftswoch­en straffrei, wenn die Frau an einer Konfliktbe­ratung teilgenomm­en und danach eine dreitägige Bedenkzeit eingehalte­n hat. „Die deutsche Regelung ist eine Kompromiss­formel, die im Parlament gefunden

„Eine Gesellscha­ft muss entscheide­n, wo sie Grenzen zieht“

Robert Jütte Medizinhis­toriker

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