„Impfstoff-Zulassungen Anfang 2021“
Der Chef des Paul-Ehrlich-Instituts spricht über aussichtsreiche Kandidaten in der Forschung.
Herr Cichutek, Ihr Institut entscheidet über die Zulassung von Impfstoffen. Alle Welt wartet auf einen Corona-Impfstoff. Wie weit sind die Forschungen?
CICHUTEK Es laufen weltweit bereits 44 klinische Prüfungen zu Covid-19-Impfstoffen, davon zwölf in Phase 2 oder 3. Weltweit gibt es derzeit etwas mehr als 150 präklinische Impfstoffprojekte.
Die Hersteller setzen auf verschiedene Wege. Welcher erscheint Ihnen besonders erfolgversprechend? CICHUTEK Am weitesten in der Entwicklung, gemessen am erfolgten Eintritt in die Phase 3 der klinischen Prüfung, sind inaktivierte Ganzvirus-Impfstoffprodukte, Vektor-Impfstoffe, RNA-Impfstoffe und Subunit-Impfstoffe auf Basis des gentechnisch hergestellten Spikeproteins. Welche dieser Impfstoffprodukte ein günstiges Nutzen-Risikoprofil haben werden und damit zugelassen werden können, ergibt sich erst, wenn die Daten zur Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit vorliegen und analysiert werden konnten. Zur Bekämpfung der Pandemie durch Impfung ist es notwendig, dass eine ausreichende Anzahl Dosen mehrerer zugelassener Impfstoffprodukte zur Verfügung stehen wird – um den weltweiten Bedarf zu decken, und weil Impfstoffprodukte unterschiedliche Eigenschaften und Eignung für verschiedene Altersund Personengruppen haben können. Dies wird einige Zeit dauern, trotz der in Angriff genommen Vorarbeiten vor der Zulassung.
Wann könnte es frühestens eine Zulassung in Deutschland geben? CICHUTEK Eine Zulassung wird durch die Europäische Kommission für die EU ausgesprochen, die regelmäßig von Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums übernommen wird. Es befinden sich bereits zwei Impfstoffe im sogenannten Rolling-Review-Verfahren. Sollten die klinischen Phase-3-Prüfungen erfolgreich verlaufen, könnte mit ersten Zulassungen Anfang 2021 gerechnet werden. Danach muss eine Impfempfehlung und Priorisierung erfolgen und die Logistik zahlreicher Impfungen umgesetzt werden.
Wird es überhaupt genug Impfstoff geben?
CICHUTEK Deutschland fördert aktiv sowohl national als auch in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und den EU-Mitgliedstaaten den rechtzeitigen Aufbau von Impfstoff-Produktionskapazitäten in Deutschland und der EU. Dabei werden mit den Impfstoffentwicklern auch Verträge zur ausreichenden Versorgung der Bevölkerung in Deutschland und Europa mit potenziellen Covid-19-Impfstoffen geschlossen. Das Bundesgesundheitsministerium
engagiert sich hier intensiv.
Wie lange könnten sich die Impfungen hinziehen?
CICHUTEK Die Zulassung eines Impfstoffs bedeutet nicht, dass dieser sofort für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen wird. Daher wurden die Ständige Impfkommission (Stiko), der Deutsche Ethikrat und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina beauftragt, Vorschläge für eine Priorisierung zu erarbeiten. Und wie lange insgesamt dann die Durchimpfung dauert, hängt neben der bereits in Planung befindlichen Logistik auch von der Impfbereitschaft der Bevölkerung ab.
Sind die Rückschläge bei den Tests der Hersteller im üblichen Rahmen?
CICHUTEK Bisher sind keine ungewöhnlichen Rückschläge aufgetreten. Die Studienunterbrechungen durch die Sponsoren zeigen, dass hier nach den Vorschriften der guten klinischen Praxis vorgegangen wird. Bei Impfung von einer großen Anzahl von Probanden sind Ereignisse während einer Studie, wie bekannt geworden, zu erwarten. Trotzdem gilt: Erst wenn auch die Phase-3-Studie erfolgreich abgeschlossen ist und alle Daten im Zulassungsdossier entsprechend positiv bewertet werden – Stichwort Nutzen-Risiko-Bewertung –, kann eine Zulassung erfolgen.
Kann es auch sein, dass es am Ende keinen Impfstoff gibt?
CICHUTEK Gründe, die derzeit dafür sprechen, dass die erfolgreiche Entwicklung zur Zulassung von Covid-19-Impfstoffen gelingen wird, sind die Erzeugung einer spezifischen Immunantwort gegen Sars-Coronavirus-2 beim Menschen, das Sicherheitsprofil in Tierversuchen und der in Tierversuchen gezeigte Schutz gegen eine symptomatische Infektion der unteren Atemwege und Lunge.
Russland hat das Zulassungsverfahren abgekürzt. Kann man das auch in Deutschland machen? CICHUTEK Die laufenden Rolling-Review-Verfahren sind eine Möglichkeit, die Bewertungsverfahren vor der Genehmigung einer klinischen Prüfung und vor der Zulassung zeitlich zu beschleunigen, ohne auf die gründliche Prüfung und Bewertung der Impfstoffe zu verzichten. Covid-19-Impfstoffe, die in Europa eine Zulassung erhalten sollen, müssen wie alle anderen Impfstoffe die Phase-3-Studie erfolgreich durchlaufen, das heißt, dass statistisch signifikante Daten zur Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit zur Bewertung von Nutzen und Risiko vorliegen. Ein Verfahren der Impfstoffzulassung ohne statistisch signifikante Daten zur Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit, wie es für Russland beschrieben wird, ist in der EU nicht üblich.
Aktuell sorgen sich Bürger und Apotheker, dass es schon beim Influenza-Impfstoff zu wenig Dosen gibt. Wird der Impfstoff reichen? CICHUTEK Im Jahr 2020 wurde zu Jahresbeginn erstmals eine Bedarfsermittlung für Influenza-Impfstoffe gemäß Sozialgesetzbuch V durchgeführt. Gemäß den dort festgelegten Vorgaben wurde auf die ermittelte Menge an Impfstoffdosen 30 Prozent aufgeschlagen, zukünftig zehn Prozent. Zudem hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Extradosen beschafft. Im Ergebnis werden für die Saison 2020/2021 mehr saisonale Impfstoffdosen zur Verfügung stehen als in einem der letzten zwölf Jahre. Da waren es meist weniger als 20 Millionen Dosen pro Saison. Insgesamt werden mehr als 26 Millionen Dosen erwartet, darunter circa sechs Millionen Dosen, die vom BMG zusätzlich beschafft wurden. Vom Paul-Ehrlich-Institut wurden bisher 22,3 Millionen Dosen freigegeben – es stehen also noch weitere Dosen aus, die nach erfolgreicher Chargenfreigabe zur Verfügung stehen werden. Bisher verlief die Chargenfreigabe reibungslos. Prioritär sollten, wie von der Stiko vorgesehen, die Risikogruppen geimpft werden.
Kann man bei den Herstellern Influenza-Impfstoff nachordern? CICHUTEK Nein, weil die Impfstoffhersteller keinen Grippeimpfstoff für die laufende Saison nachproduzieren können, da die Herstellung zu lange dauert. Nach unseren Informationen ist die Auslieferung der Influenza-Impfstoffdosen für diese Saison noch nicht abgeschlossen.