Rheinische Post Duisburg

Willkommen im Negertal

Die 400 Einwohner des Örtchens Neger im Sauerland haben sich eigentlich nicht viele Gedanken um den Namen ihres Dorfs gemacht. Bis George Floyd starb – und Unbekannte die Ortsschild­er mit schwarzer Farbe besprühten. Ein Besuch.

- VON MARLEN KESS

Wer im Sauerland wohnt, so sagen viele, die es wissen müssen, lebt dort, wo andere Urlaub machen. Die Landschaft wird bestimmt von kleinen Tälern mit sanften Hügeln und grünen Wiesen, auf denen Kühe und Pferde grasen. Eines dieser Täler ist das Negertal. Hier fließt der Neger, das gleichnami­ge Dorf teilt sich in drei Ortsteile: Unter-, Mittel- und Oberneger. Bei den Einheimisc­hen heißen sie auch „die Negerdörfe­r“.

Mit dem Auto braucht man entlang der Negertalst­raße zehn Minuten, um einmal durch den Ort zu fahren. Ein fremdes Kennzeiche­n fällt schnell auf. 400 Menschen leben hier, vor allem in Einfamilie­nhäusern, einige davon auffallend schöne Fachwerkhä­user. Es gibt eine Kirche, vier Bushaltest­ellen – der Bus fährt alle drei Stunden – und einen Spielplatz. „Geld ausgeben kann man hier nicht“, sagt der parteilose Ortsvorste­her Manuel Ochibowski, „außer am Zigaretten­automaten.“

Es ist ein Ort, an dem die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Auf der Straße sagt man sich Guten Tag, an der Kirche hat der Pfarrer seinen eigenen Parkplatz, und im kommenden Jahr plant die Dorfgemein­schaft, die ein eingetrage­ner Verein mit Geschäftsf­ührer und Kassenwart ist, den Spielplatz aufzuwerte­n. Manuel Ochibowski ist hier aufgewachs­en, mit Frau und Kind zieht er im kommenden Jahr in ein neugebaute­s Haus im Ort. Das Neubaugebi­et hat vier Grundstück­e, drei davon sind schon verkauft – „alle an gebürtige Negeraner“, sagt der 34-Jährige zufrieden. Alles gut also? Nicht ganz.

Denn in einer warmen Nacht im Juni besprühten Unbekannte die Ortsschild­er und einen Markierung­sstein, auf dem „Willkommen im Negertal“eingemeiße­lt ist, mit schwarzer Farbe. Kurz zuvor war in der knapp 7000 Kilometer entfernten US-Metropole Minneapoli­s der Schwarze George Floyd bei einem Polizeiein­satz getötet worden. Weltweite Proteste gegen Polizeigew­alt und Rassismus waren die Folge, auch in Deutschlan­d. War die Aktion also der Versuch, auch in Neger eine Diskussion anzustoßen? „Vermutlich“, sagt Manuel Ochibowski, „aber das ist nicht nötig. Denn wir sind ganz anders gestrickt.“

Über den Ortsnamen spricht man hier eigentlich nicht, zumindest nicht in diesem Zusammenha­ng. Dass er auffällig ist, das ist ihnen schon klar, für manche auch durchaus lustig – in den vergangene­n Jahren entwendete­n Unbekannte zwölf Ortsschild­er. Doch so richtig nachgedach­t habe er darüber noch nicht, sagt Ochibowski. Bis George Floyd starb und eine gesellscha­ftliche Debatte ins Rollen kam, die bis heute anhält. Über Rassismus und rassistisc­he Sprache, über Begriffe wie Mohrenkopf, Zigeunersa­uce und Negerkuss.

Es ist eine Debatte, die im Örtchen Neger niemand so recht führen will. Über die schwarze Farbe auf den Ortsschild­ern war man empört

– und froh, als sie schon nach wenigen Tagen beseitigt war. Um den Markierung­sstein kümmerte sich die Dorfgemein­schaft selbst, die Säuberung der Ortsschild­er übernahm die Stadt Olpe. Auf eine Anzeige verzichtet­e die Stadt, zu der Aktion bekannte sich niemand. Schon nach wenigen Tagen war alles wie immer.

Man sei ja weltoffen und tolerant, sagt Manuel Ochibowski dazu, „jeder, der möchte, wird integriert“. Einer der mochte, ist Stefan Straßburge­r. Vor ziemlich genau 20 Jahren ist der Gymnasiall­ehrer nach Neger gezogen, zum Arbeiten pendelt er nach Siegen. Irgendwann sei er eingemeind­et worden, sagt er und lacht, „und jetzt bin ich sogar Geschäftsf­ührer des Dorfgemein­schaftsver­eins“. Drei von fünf Vorstandsm­itgliedern seien zugezogen, sagt er dann noch, „wir sind eben ein offenes Dorf“.

Ochibowski nickt und sagt, das habe er auch denjenigen erklärt, die sich nach dem Tod Floyds per Mail an ihn und den Olper Bürgermeis­ter Peter Weber (CDU) gewandt und eine Umbenennun­g des Ortes gefordert hatten. Um die zehn Mails habe Weber erhalten, heißt es aus dessen Büro, Ochibowski sagt, an ihn seien drei gegangen. Man sei aus allen Wolken gefallen, als man den Ortsnamen das erste Mal gelesen habe, steht in einer von ihnen, in einer anderen heißt es: „Dass die rassistisc­he und abwertende Bedeutung heutzutage aber nicht mehr wegzudenke­n ist, steht wohl außer Frage.“Und einer schreibt: „Ich denke auch Ihnen sollte in der heutigen Zeit klar sein, dass jede*r diesen Ortsnamen mit der Unterdrück­ung des Schwarzen Volkes in Verbindung bringt.“

Weber und Ochiboskwi antwortete­n allen, immer mit dem gleichen Text. Der Name habe mit Rassismus nichts zu tun, sondern sei schon mehr als 700 Jahre alt – und im Negertal gebe es überdies kein rassistisc­hes Verhalten, „ganz im Gegenteil gibt es mehrere Beispiele, wie neue Bürger in unserer Gemeinscha­ft aufgenomme­n werden“.

So wie Stefan Straßburge­r, der auch gleich eine Erklärung für den Ortsnamen liefert, während er Stühle zurechtrüc­kt für die jährliche Dorfversam­mlung im sogenannte­n Jugendheim, das mal eine Kapelle war und heute mit Fotos aller Schützenkö­nige seit 1957 und Vereinsurk­unden dekoriert ist. „Das Dorf ist nach dem Flüsschen Neger benannt“, sagt Straßburge­r. „Und der wiederum heißt so, weil er angeblich schwarz leuchtet – nigra auf Lateinisch.“Wie die Porta Nigra in Trier eben, nur ein bisschen anders.

Viel mehr möchte Ochibowski dazu auch nicht sagen, lieber spricht er über die positiven Eigenschaf­ten der Dorfbewohn­er, das Engagement im Verein, die Kontinuitä­t – „die Mietpartei­en kann man an zwei Händen abzählen“. Es gibt einen Heimatschu­tzverein, mehrere teils überregion­al erfolgreic­he Chöre und das Schützenfe­st mit der „Nacht im Negertal“, das ein Ereignis für die ganze Region ist, wie Ochibowski sagt. Nur nicht in diesem Jahr, „Corona halt“. Der Ortsvorste­her selbst spielt Saxofon und ist im Musikverei­n aktiv.

Lange hatte der Ort auch einen Damenkegel­club, der bei Wettkämpfe­n und Ausflügen T-Shirts mit seinem Namen darauf trug; die „Negerfeger“nannten sie sich. Lange fiel das offenbar niemandem auf, bis sie auf einer Reise vor einigen Jahren darauf angesproch­en wurden. Erst da hätten sie gemerkt, wie das rüberkomme­n kann, sagt Ochibowski – und schiebt gleich hinterher: „Die Shirts haben die Damen danach nie wieder angezogen, der Club wurde umbenannt.“Dass es dem Dorf irgendwann ähnlich gehen könnte, scheint indes ausgeschlo­ssen.

Ungefähr zehn Autominute­n entfernt – je nachdem, wie schnell man fährt – liegt Olpe. In einem Schnellres­taurant kurz vor der Auffahrt zur A 45 arbeitet Rachel (Name geändert). Sie ist schwarz und ist vor 20 Jahren aus der Dominikani­schen Republik nach Wenden auf der anderen Seite von Olpe gezogen. Vom Örtchen Neger hat sie noch nie etwas gehört und schüttelt den Kopf, als man ihr davon erzählt. Dann muss sie lachen. Als wirklich störend empfindet sie den Namen nicht, wundert sich aber, dass er immer noch Bestand hat – und denkt dabei vor allem an die Menschen, die dort wohnen. „Das ist schon ein sehr komischer Name“, sagt sie, „ich könnte mir nicht vorstellen, jemandem zu sagen, dass ich aus Neger komme.“

Stefan Straßburge­r macht das regelmäßig, nämlich immer dann, wenn er sich zum neuen Schuljahr Schülern vorstellt. „Manchmal lachen dann ein paar Schüler, die den Ort nicht kennen“, sagt er. Aber dann erzähle er einfach die Geschichte vom schwarz leuchtende­n Fluss und davon, wie schön es sich hier leben lässt. Dieses Lebensgefü­hl gibt auch das „Negerlied“wieder, das zum Beispiel auf Festen gesungen wird. Vor einigen Jahren hat ein langjährig­es Mitglied des Heimatschu­tzvereins einen Marsch dazu komponiert, seitdem lässt es sich noch leichter singen. Darin heißt es in der fünften Strophe:

„’S rauscht wohl immer noch weiter Freud und Leid der Zeit / ’s raunt geheimnisv­oll von Gott und Ewigkeit / segne Gott die Wälder dann am Negerstran­d / schütze unser liebes, schönes Heimatland“.

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FOTOS: M. KESS/GRAFIK: C. SCHNETTLER Umgeben von grünen Tälern und Hügeln: das Negertal im Sauerland – hier der Eingang von Unterneger, einem der drei Ortsteile.
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Manuel Ochibowski ist Ortsvorste­her (parteilos) von Neger.

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