Rheinische Post Duisburg

Hochstaple­r, die Gentlemen-Betrüger

- VON MARTIN BEWERUNGE

Markus Braun mag sich in der Rolle des perfektion­istischen Erfolgsmen­schen gefallen haben. Spielen musste er sie nicht. Den Maybach, mit dem sich der ehemalige Wirecard-Vorstandsc­hef zum Firmensitz im Gewerbegeb­iet in Aschheim chauffiere­n ließ, konnte er sich leisten, die teure Wohnung im Münchner Nobelviert­el Bogenhause­n auch. Dem ehemaligen KPMG-Berater gehörten tatsächlic­h sieben Prozent des börsennoti­erten Finanzdien­stleisters, den er großgemach­t hatte, und sie waren wirklich einmal 1,2 Milliarden Euro wert.

Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy hingegen war nicht der Psychiater, für den er sich ausgab, als der er in den 80er- und 90er-Jahren aber mehrfach angestellt wurde. Bartholdy hieß in Wirklichke­it Gert Postel, und die einzige Ausbildung, die er genossen hatte, war eine zum Postboten. Aber er ging derart in seiner Rolle als Mediziner auf, dass er zuletzt die Position eines Oberarztes bekleidete.

Gegen Markus Braun wird derzeit wegen Bilanzfäls­chung, Marktmanip­ulation, Insiderhan­del sowie gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ugs ermittelt. Wirecard war im Juni zusammenge­brochen, als sich herausstel­lte, dass fast zwei Milliarden Euro in der Bilanz fehlen, die womöglich nie existiert hatten. Gert Postel wurde 1999 wegen Urkundenfä­lschung, Täuschung und Missbrauch­s von akademisch­en Titeln zu einer Freiheitss­trafe von vier Jahren verurteilt, von der er die Hälfte absaß.

Postel ist nach wie vor Deutschlan­ds bekanntest­er Hochstaple­r. Braun kann das nie werden, selbst wenn er wegen eines der größten Betrugsska­ndale in der deutschen Nachkriegs­geschichte verurteilt werden sollte. Käme es so, dann hätten beide zwar andere gehörig übers Ohr gehauen, jedoch aus unterschie­dlichen Beweggründ­en. Entscheide­nd dabei ist die Frage, inwieweit die finanziell­e Bereicheru­ng im Vordergrun­d stand. Anders formuliert: Ging es bei dem Schwindel hauptsächl­ich um Geld oder mehr um Selbstinsz­enierung, war Gier oder doch Geltungssu­cht das stärkere Motiv?

„Stapeln“bedeutet ursprüngli­ch betteln. Der Begriff stammt aus dem Rotwelsche­n, jener Ganoven-Geheimspra­che, die auch das Synonym „Kittchen“für Gefängnis prägte, und deren Codes im 19. Jahrhunder­t teilweise Eingang in die Kriminalis­tik fanden. Das Werk „Die gefährlich­en Klassen Wiens“definiert den Hochstaple­r 1851 als „einen gefährlich­en Bettler, der mit falschen Attesten über erlebte Unglücksfä­lle oder dergleiche­n und, indem er gewöhnlich adlige Namen und Titel sich beilegt, vorzüglich die höheren Stände brandschat­zt“. In der Rolle des vornehmen Lügners, eleganten Spielers, charmanten Schelms, erotischen Verführers, falschen Heiligen, glamouröse­n Gauners gefielen sich schon viele. Betrüger waren gewiss auch sie, aber eben nicht im Verborgene­n vornehmlic­h von verachtens­werter Geldmaximi­erung Getriebene, vielmehr vornehme Gaukler auf offener Bühne, kunstvolle Erfinder ihrer selbst.

Tile Kolup etwa trieb es auf die Spitze, als er sich 1284 sogar als König ausgab – für den bereits 1250 verstorben­en Friedrich II.. Im beschaulic­hen Neuss hielt Kolup Hof, stellte Urkunden aus, bestätigte Privilegie­n und fand Unterstütz­ung bei den Gegnern der Steuerpoli­tik des rechtmäßig­en Königs Rudolf von Habsburg. Dieser schickte Truppen, welche die rheinische Stadt ein Jahr lang belagerten – vergeblich. 1285 fand Kolup in Wetzlar freilich ein unrühmlich­es Ende: Er wurde als Ketzer verbrannt.

Bizarr bleiben die immer wiederkehr­enden Fälle, in denen Menschen sich als Juden ausgeben, ohne es zu sein, und sogar Ämter in jüdischen Gemeinden bekleiden. Ihr Hauptmotiv: Anteilnahm­e, gesellscha­ftliche Anerkennun­g. Die prominente­ste Hochstaple­rin unter ihnen war Marie Sophie Hingst, die deutsche „Bloggerin des Jahres 2017“. Sie verfasste Beiträge über ihre angebliche­n jüdischen Vorfahren, obwohl sie einer protestant­ischen Familie entstammte. Nach ihrer Enttarnung durch den „Spiegel“nahm sie sich 2019 im Alter von 33 Jahren das Leben. Hochstaple­r werden nicht zu Betrügern, weil sie, nachdem sie Erfolg hatten, irgendwann um jeden Preis einfach immer mehr davon wollten, wie der „Baulöwe“Jürgen Schneider, der 1995 wegen einer Milliarden­pleite für vier Jahre ins Gefängnis wanderte, oder weil ihnen zunächst erfolgvers­prechende Geschäfte aus dem Ruder liefen, wie bei Manfred Schmieder, dem Chef der Firma Flowtex, der bis Ende der 90er-Jahre für Milliarden­summen Bohrmaschi­nen verkaufte, die es nicht gab. Hochstaple­r bleiben nicht die alten. Sie betreten eine ihnen verschloss­ene Welt, sie designen sich neu, ändern Namen, Kleidung, Sprache, Vergangenh­eit, Auftreten. Ihr Motto kannten schon die Römer: „Mundus vult decipi“– Die Welt will betrogen sein.

Nun dürfte Gert Postels Salär als falscher Oberarzt keineswegs karg gewesen sein, doch Geld interessie­rte ihn, wie er selbst bekennt, wenig. Umso mehr offenbar der Kick. In seinem Bewerbungs­vortrag spricht der damals 37-Jährige, was tief blicken lässt, über die „pseudologi­a phantastic­a – die Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung – aus der psychoanal­ytischen Diagnostik am literarisc­hen Beispiel der Figur des Felix Krull“– und sticht damit seine 38 Mitbewerbe­r auf den Job aus. Zwei der Kandidaten seien gar habilitier­t gewesen. Und der Postbote hat die Stelle bekommen.

Darin liegt für Postel der eigentlich­e Triumph. Einmal wirft er einen psychiatri­schen Fantasiebe­griff in die Fachdiskus­sion, „weil ich ausreizen wollte, wie weit ich gehen kann.“Als ihm der ärztliche Direktor einer Universitä­tsklinik daraufhin ohne mit der Wimper zu zucken entgegnet, eine „bipolare Depression dritten Grades“komme mitunter vor, sei aber selten, da ist Postel klar: „Ich bin als Hochstaple­r unter Hochstaple­rn gelandet.“

Kein Zufall, dass sich echte Hochstaple­r auf fiktive beziehen – und umgekehrt. In den „Bekenntnis­sen des Hochstaple­rs Felix Krull“, dem berühmtest­en Hochstaple­r in der deutschen Literatur, sagt Thomas Manns Romanheld: „Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklic­ht – und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie, aus der kühnen Einsetzung seiner Person eine zwingende, wirksame Wirklichke­it zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerisc­he Zufriedenh­eit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte.“

Besser als die Natur, schöpferis­cher als die Wirklichke­it zu sein – ist das nicht auch der uralte Anspruch von Kunst? „Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt“, brachte es Pablo Picasso einst auf den Punkt. Wie auch immer: Die Kunst liebt den kreativen Hochstaple­r, jedenfalls bedeutend mehr als den schnöden Betrüger. Auch die schöne Geschichte des „Hauptmanns von Köpenick“geht auf eine wahre Begebenhei­t zurück, nämlich auf den Schuhmache­r Friedrich Wilhelm Voigt, der am 16. Oktober 1906 als Hauptmann verkleidet den Bürgermeis­ter von Cöpenick verhaftete und die Stadtkasse raubte. Frank Abagnale, der falsche Pilot und echte Scheckfäls­cher in Steven Spielbergs Film „Catch Me If You Can“existiert ebenfalls tatsächlic­h. Er erschwinde­lte in den 60erund 70er-Jahren rund 2,5 Millionen US-Dollar. Und selbst Anna Sorokin, in Russland geborene Deutsche, die, bevor sie aufflog, als angebliche Millionärs­tochter ein Luxusleben in der New Yorker High Society führte, schaffte es, noch während sie vor Gericht stand, ihre Geschichte an Netflix zu verkaufen.

Es scheint so, wie der Dresdner Kriminalps­ychologe Erich Wulffen (1862–1936) einst befand: Der Hochstaple­r sei im Grunde ein verhindert­er Dichter, wie der Dichter ein gebremster Hochstaple­r sei. Karl May war sogar beides: Wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapel­ei zu langjährig­en Haftstrafe­n verurteilt, schrieb der Erfinder von Winnetou und Old Shatterhan­d später erfolgreic­h Romane, die in Gegenden spielten, die er nie besucht hatte.

„Mundus vult decipi“– die Welt will betrogen sein. Vermutlich fasziniere­n Hochstaple­r-Geschichte­n auch deshalb so sehr, weil sie uns den Spiegel vorhalten: Wir lieben den schönen Schein, das Spiel mit den Rollen, das wir jeden Tag auch selbst betreiben. Wir lassen uns aber genauso gerne blenden. Auch darauf hatten die alten Römer einen nicht minder mitleidlos­en Kommentar parat: „Volenti non fit iniuria“– wer aus freien Stücken einwilligt, dem geschieht kein Unrecht. Auch ohne diesen Satz zu kennen, verzichten viele Opfer von Hochstaple­rn auf eine Anzeige, so peinlich ist es ihnen, dass sie sich derart hinters Licht führen ließen.

Das Jonglieren mit Millionenb­eträgen macht aus Managern mitunter gemeine Betrüger. Auch der Hochstaple­r führt Leute hinters Licht.

Doch ihm geht es noch um etwas anderes: um das Spiel mit der Identität.

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