Rheinische Post Duisburg

Frontaler Angriff auf die Demokratie

- VON MORITZ DÖBLER

Unter normalen Umständen müsste jetzt das Ergebnis der US-Wahl hier kommentier­t werden. Allein, das ist nicht möglich – es liegt nicht vor. Wie lange es auf sich warten lässt, bleibt unklar, ebenso, inwieweit es nun zum juristisch­en Showdown kommt. Schon bevor alle Stimmen ausgezählt wurden, hat sich Präsident Donald Trump zum Sieger ausgerufen, von Betrug gesprochen und angekündig­t, den Obersten Gerichtsho­f anzurufen.Was ist da bloß los? Der Blick nach Westen kann nur besorgt ausfallen. Der Staats- und Regierungs­chef ausgerechn­et jener Demokratie, die schon vor mehr als zwei Jahrhunder­ten ihren ersten Präsidente­n George Washington wählte, greift die Grundfeste­n just dieses politische­n Systems frontal an, das auch der Bundesrepu­blik als Vorbild diente. Trumps Ansprache im Weißen Haus war eine bodenlose Unverfrore­nheit.

Aber sie lässt sich nur als Schwäche, nicht etwa als Stärke des Präsidente­n deuten. Die amerikanis­che Demokratie ist stärker als er. Auch dieser Nationalis­t, Sexist („Grab ’em by the pussy“) und Chauvinist, dieser Erfinder alternativ­er Fakten und vielfach überführte Lügner, dieser zwielichti­ge Immobilien­unternehme­r und Steuerverm­eider, dieser narzisstis­che Rüpel, egomanisch­e Hochstaple­r und Wut-Twitterer – spätestens in vier Jahren ist er Geschichte und folgt eine Zäsur. Dann können sich jüngere Politiker – und Politikeri­nnen! – um das höchste Amt ihres Landes bewerben, denen das politische Risiko diesmal zu groß war.

Denn bei allem Respekt wäre Joe Biden doch eine Notlösung. Mit seinen knapp 78 Jahren handelt es sich bei ihm um den sprichwört­lichen alten weißen Mann; sein größter Vorzug ist, nicht Trump zu sein. Einen klaren Sieg hat ihm das eben nicht beschert, selbst wenn er es doch noch ins Weiße Haus schaffen sollte. Zu groß die Polarisier­ung, zu komplizier­t das Wahlsystem. Er gibt sich noch nicht geschlagen. „Wir müssen geduldig sein“, sagte er vor Anhängern in Delaware und untertrieb damit wahrschein­lich stark. Aber es ist, bei allen Defiziten des Wahlsystem­s, auch dieses Ringen ein Fest für die Demokratie, die sich durchsetze­n wird. eit Tagen beschäftig­t die Präsidents­chaftswahl die Menschen in den USA in einem lange nicht gekannten Ausmaß. Politik gilt vielen Amerikaner­n eigentlich als Schimpfwor­t, jetzt hat sie die Gespräche und Gedanken bestimmt wie selten in den vergangene­n Jahren. Die Wahlbeteil­igung ist hoch, rund 100 Millionen Menschen hatten schon vorab ihre Stimmen per Brief abgegeben. Der Kampf um das Weiße Haus lässt kaum jemanden in den USA kalt, und das ist am Ende eine gute Nachricht.

Und nun? Joe Biden hat die Wahl mindestens nicht so klar dominiert, wie es die Umfragen nahegelegt hatten, vielleicht hat er sie sogar verloren. Endlich wieder Normalität, Anstand und Respekt einkehren zu lassen, hatte er versproche­n. Wie nötig das ist, zeigt das Verhalten Trumps am Wahlabend. Doch noch sieht es nicht danach aus, jedenfalls nicht in den nächsten Tagen. Nur: Selbst wenn Biden auf den letzten Metern gewinnt und das auch juristisch durchsetzt, erfüllen sich in Washington nicht alle Blütenträu­me der Europäer. Der Herausford­erer liegt ihnen zwar in Stil und Rhetorik näher als der monströse Amtsinhabe­r, aber machtpolit­isch bedeutet das wenig. merica first – das würde selbstvers­tändlich auch für Biden gelten. So oder so werden sich Europa und Deutschlan­d anstrengen müssen, um mitzuhalte­n: wirtschaft­lich ohnehin, aber auch politisch, ob nun mit Trump oder mit Biden. Während die Auszählung der Stimmen auf Hochtouren lief, wurde der Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschut­zabkommen rechtswirk­sam. Biden will diesen Schritt rückgängig machen, und von ihm wäre zu erwarten, dass sich die USA wieder stärker in die internatio­nale Gemeinscha­ft einbinden lassen. Wenn es so käme, würde aus dem Fest der Demokratie doch noch ein Fest der Vernunft. Aber selbst wenn es in den nächsten Wochen oder in den nächsten vier Jahren nicht so kommt: Ein Präsident, und sei er noch so zerstöreri­sch, kann diese zwar zerrissene, aber zutiefst freiheitli­che Nation nicht kleinkrieg­en.

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