Frontaler Angriff auf die Demokratie
Unter normalen Umständen müsste jetzt das Ergebnis der US-Wahl hier kommentiert werden. Allein, das ist nicht möglich – es liegt nicht vor. Wie lange es auf sich warten lässt, bleibt unklar, ebenso, inwieweit es nun zum juristischen Showdown kommt. Schon bevor alle Stimmen ausgezählt wurden, hat sich Präsident Donald Trump zum Sieger ausgerufen, von Betrug gesprochen und angekündigt, den Obersten Gerichtshof anzurufen.Was ist da bloß los? Der Blick nach Westen kann nur besorgt ausfallen. Der Staats- und Regierungschef ausgerechnet jener Demokratie, die schon vor mehr als zwei Jahrhunderten ihren ersten Präsidenten George Washington wählte, greift die Grundfesten just dieses politischen Systems frontal an, das auch der Bundesrepublik als Vorbild diente. Trumps Ansprache im Weißen Haus war eine bodenlose Unverfrorenheit.
Aber sie lässt sich nur als Schwäche, nicht etwa als Stärke des Präsidenten deuten. Die amerikanische Demokratie ist stärker als er. Auch dieser Nationalist, Sexist („Grab ’em by the pussy“) und Chauvinist, dieser Erfinder alternativer Fakten und vielfach überführte Lügner, dieser zwielichtige Immobilienunternehmer und Steuervermeider, dieser narzisstische Rüpel, egomanische Hochstapler und Wut-Twitterer – spätestens in vier Jahren ist er Geschichte und folgt eine Zäsur. Dann können sich jüngere Politiker – und Politikerinnen! – um das höchste Amt ihres Landes bewerben, denen das politische Risiko diesmal zu groß war.
Denn bei allem Respekt wäre Joe Biden doch eine Notlösung. Mit seinen knapp 78 Jahren handelt es sich bei ihm um den sprichwörtlichen alten weißen Mann; sein größter Vorzug ist, nicht Trump zu sein. Einen klaren Sieg hat ihm das eben nicht beschert, selbst wenn er es doch noch ins Weiße Haus schaffen sollte. Zu groß die Polarisierung, zu kompliziert das Wahlsystem. Er gibt sich noch nicht geschlagen. „Wir müssen geduldig sein“, sagte er vor Anhängern in Delaware und untertrieb damit wahrscheinlich stark. Aber es ist, bei allen Defiziten des Wahlsystems, auch dieses Ringen ein Fest für die Demokratie, die sich durchsetzen wird. eit Tagen beschäftigt die Präsidentschaftswahl die Menschen in den USA in einem lange nicht gekannten Ausmaß. Politik gilt vielen Amerikanern eigentlich als Schimpfwort, jetzt hat sie die Gespräche und Gedanken bestimmt wie selten in den vergangenen Jahren. Die Wahlbeteiligung ist hoch, rund 100 Millionen Menschen hatten schon vorab ihre Stimmen per Brief abgegeben. Der Kampf um das Weiße Haus lässt kaum jemanden in den USA kalt, und das ist am Ende eine gute Nachricht.
Und nun? Joe Biden hat die Wahl mindestens nicht so klar dominiert, wie es die Umfragen nahegelegt hatten, vielleicht hat er sie sogar verloren. Endlich wieder Normalität, Anstand und Respekt einkehren zu lassen, hatte er versprochen. Wie nötig das ist, zeigt das Verhalten Trumps am Wahlabend. Doch noch sieht es nicht danach aus, jedenfalls nicht in den nächsten Tagen. Nur: Selbst wenn Biden auf den letzten Metern gewinnt und das auch juristisch durchsetzt, erfüllen sich in Washington nicht alle Blütenträume der Europäer. Der Herausforderer liegt ihnen zwar in Stil und Rhetorik näher als der monströse Amtsinhaber, aber machtpolitisch bedeutet das wenig. merica first – das würde selbstverständlich auch für Biden gelten. So oder so werden sich Europa und Deutschland anstrengen müssen, um mitzuhalten: wirtschaftlich ohnehin, aber auch politisch, ob nun mit Trump oder mit Biden. Während die Auszählung der Stimmen auf Hochtouren lief, wurde der Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen rechtswirksam. Biden will diesen Schritt rückgängig machen, und von ihm wäre zu erwarten, dass sich die USA wieder stärker in die internationale Gemeinschaft einbinden lassen. Wenn es so käme, würde aus dem Fest der Demokratie doch noch ein Fest der Vernunft. Aber selbst wenn es in den nächsten Wochen oder in den nächsten vier Jahren nicht so kommt: Ein Präsident, und sei er noch so zerstörerisch, kann diese zwar zerrissene, aber zutiefst freiheitliche Nation nicht kleinkriegen.
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