Rheinische Post Duisburg

Straße gegen Parlament

Bundestag und Bundesrat ändern das Infektions­schutzgese­tz. Der grelle Protest von draußen schwappt bis in den Plenarsaal.

- VON GREGOR MAYNTZ UND HOLGER MÖHLE

BERLIN Sie sind früh auf den Beinen. Abgeordnet­e gehen schon vor acht ins Reichstags­gebäude, um sich nicht blockieren zu lassen, Demonstran­ten haben sich noch früher aufgemacht, um ihren Protest gegen die Änderung des Infektions­schutzgese­tzes auf die Straßen um das Reichstags­gebäude zu bringen. Die Stationen im Gesetzgebu­ngsverfahr­en: mittags Bundestag, nachmittag­s Bundesrat, abends Bundespräs­ident. Dazwischen immer wieder Proteste und Polizeiein­sätze.

Teilnehmer kommen aus dem Rheinland, dem Emsland und Westfalen, aus der Oberpfalz, dem Schwarzwal­d und der Lausitz. Und sie parken ihre Autos Kilometer vor dem Reichstags­gebäude an der Straße des 17. Juni. Viele gut gekleidet, manche mit Jute-Umhängen voller Sticker und bunter Fahnen, als kämen sie von einer Anti-Atomkraft-Demo aus dem Wendland. Aber das hier ist eine Anti-Corona-, Anti-Impfen-, Anti-System-Demo.

Kein Mundschutz, kein Abstand. Wieso auch? Corona gibt es nach ihrer Lesart gar nicht. Um 9.50 Uhr tragen etwa 90 Prozent der Demonstran­ten, die am Brandenbur­ger Tor aufmarschi­ert sind, keine Masken, dafür Sticker mit der Aufschrift „Umarmbar“. Eine Polizistin versucht, die Maskenpfli­cht bei einem Mann durchzuset­zen. Er wehrt sich. Mit Kollegen wird er zur Feststellu­ng seiner Personalie­n weggebrach­t.

Die Ansage der 2000 Beamten ist eindeutig: Auflagen einhalten, oder wir schreiten ein. So ist die Lage, als Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble die Sitzung eröffnet. Die AfD will das Thema von der Tagesordnu­ng haben. Es habe nicht genug Zeit zur Beratung gegeben. Sofort fällt das böse Wort, die Anspielung auf 1933: Die Regierung plane eine „Ermächtigu­ng“wie seit Jahrzehnte­n nicht. Damit versucht AfD-Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Bernd Baumann, Pingpong zwischen Straße und Plenarsaal zu spielen.

Redner anderer Fraktionen lehnen das Ansinnen ab. „Sie haben keine Alternativ­en, Sie wollen nur Krawall“, sagt Marco Buschmann von der FDP. Das Gesetz sei zwar schlecht, aber es führe nicht zur Diktatur.

Im Ausschuss sei von der AfD nichts zu hören gewesen.

Die Debatte beginnt. Draußen fahren die Wasserwerf­er vor. Nach mehrmalige­n vergeblich­en Aufrufen, sich an Maskenpfli­cht und Abstand zu halten, wird die Versammlun­g am Brandenbur­ger Tor beendet. Aber die Teilnehmer bleiben. Drinnen greift AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland einen Vorfall vom Vormittag auf, bei dem der AfD-Abgeordnet­e Marco Hilse von mehreren Polizisten zu Boden gerissen wurde, obwohl er rief, er sei Abgeordnet­er. „Wo sind wir eigentlich angekommen in diesem Land?“, ruft Gauland in den Plenarsaal. Hilse wollte ohne Maske durch die Absperrung, die Polizei spricht von

Widerstand. Da wird noch einiges aufzukläre­n sein. Jedenfalls nimmt Gauland das alles zum Anlass, die AfD die „einzige demokratis­che Fraktion“im Bundestag zu nennen.

Draußen vergleicht eine Rednerin die Regierung mit dem Hitler-Regime. In Rufen wird Gesundheit­sminister Jens Spahn mit dem „Abholen“gedroht. Ein Demonstran­t läuft wie Jesus mit einem Kreuz durch die Menge. Viele Esoteriker haben sich unter die Teilnehmer gemischt, auch Satanisten verbreiten ihre Gedanken. „Trump forever“ist auf einem Transparen­t zu lesen, ein anderes empfiehlt mehr Liebe.

Drinnen redet FDP-Chef Christian Lindner, moniert die Einführung von Hausarrest als mögliche Maßnahme und beklagt das Vorgehen der Koalition. Es habe nicht einmal ein Gesprächsa­ngebot an die Opposition gegeben. Wie zur Bestätigun­g setzt die Polizei draußen erstmals Wasserwerf­er ein. Allerdings nicht mit vollem Druck: „Sprühnebel“lautet die Einstellun­g. Die Demonstran­ten holen Schirme heraus.

Für die Linke attackiert Jan Korte in der Debatte die Behauptung von der Corona-Diktatur. Das sei eine Verhöhnung aller Opfer von Diktaturen. Doch für die Linke bleibt auch das Vorgehen der Koalition kritisch.

Sie habe „den Sommer verpennt“.

Um Transparen­z bemüht sich die Polizei draußen und gibt über Twitter zu Protokoll, dass Beamte mit Steinen, Flaschen und Reizgas angegriffe­n würden. Die Polizisten tun sich schwer, robust vorzugehen. Manche Demonstran­ten haben ihre kleinen Kinder mitgebrach­t.

Im Plenarsaal erzählen sich die Abgeordnet­en, dass die AfD offensicht­lich Aktivisten eingeschle­ust hat, die einzelne Politiker mit dem Handy verfolgen und auch in Abgeordnet­enbüros einzudring­en versuchen. Dabei hat die Polizei alle Zugänge massiv geschützt. Doch drinnen ist das Personal des Bundestags gefragt, und das kontrollie­rt vor allem Journalist­en scharf, weniger intensiv Abgeordnet­e, ihre Mitarbeite­r und Gäste. Die Abgeordnet­en sind empört über die Versuche, ihre freie Entscheidu­ng auch von innen unter Druck zu setzen.

Jens Spahn kommt nur bis zum Wort „Jahrhunder­tereignis“im ersten Satz, dann muss Schäuble mit Ordnungsru­fen drohen. Die AfD hat Transparen­te auf die freien Plätze gelegt. Eine Provokatio­n, ein Regelverst­oß. Eine Saaldiener­in entfernt nach einer Minute das letzte, die anderen haben die Provokateu­re selbst weggeräumt. Spahn wird energisch: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflich­t geben, hören Sie auf, anderes zu behaupten!“Das soll auch die Botschaft für die draußen sein.

60 Minuten Debatte sind geplant, nach zwei Stunden endet die Aussprache. Die Änderungsa­nträge von FDP und Grünen finden keine Mehrheit, nach knapp drei Stunden dann die erste Schlussabs­timmung: Union, SPD und Grüne stimmen zu, müssen das in einer namentlich­en Abstimmung noch einmal belegen.

Bis das 415:236-Ergebnis vorliegt, dauert es, und so hat der Bundesrat inzwischen seine Sondersitz­ung begonnen. Hessens Regierungs­chef Volker Bouffier (CDU) redet als Erster zu dem Gesetz, das noch gar nicht vorliegt. Und er spricht davon, dass nicht dieses Gesetz die Pandemie bekämpfen könne, sondern nur die Einsicht der Bevölkerun­g. Dass nach Umfragen die Akzeptanz gerade abnehme, müsse ein „Weckruf“sein. Auch auf den Straßen haben die Rufe noch lange nicht aufgehört.

„Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird keine Impfpflich­t geben“

Jens Spahn (CDU) Bundesgesu­ndheitsmin­ister

 ?? FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA ?? Demonstran­ten stehen unweit des Reichstags­gebäudes vor Polizisten.
FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Demonstran­ten stehen unweit des Reichstags­gebäudes vor Polizisten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany