„Ich bin in großer Sorge“
Der Präsident des Bundesrechnungshofs über die Corona-Maßnahmen und Risiken im neuen Haushalt.
Herr Scheller, für 2021 zeichnet sich die zweithöchste Neuverschuldung des Bundes in der Geschichte der Republik von deutlich über 100 Milliarden Euro ab. Mit welchen Gefühlen begleitet der Rechnungshofpräsident die laufenden Haushaltsberatungen?
SCHELLER Nicht alle neuen Schulden sind durch die Pandemie verursacht und lassen sich mit der außergewöhnlichen Notsituation begründen. Unter dem Deckmantel der Corona-Krise werden Mittel für zukünftige Ausgaben und Wünsche in Sondervermögen geparkt. Dabei ist der Weg aus der Krise lang und steinig. In den kommenden Wochen wird der Teil-Lockdown wohl andauern, vielleicht sogar verschärft. Und die Krise wird für Wirtschaft und Staat also noch einmal teurer. Umso dringender ist es, dass sich Regierung und Parlament bei ihren Haushaltsberatungen auf den Kern konzentrieren: die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen.
Welche Mehrausgaben befürchten Sie, die gar nichts mit der Corona-Krise zu tun haben? SCHELLER Die Aussetzung der Schuldenbremse kann nur mit der Notsituation der Corona-Krise begründet werden. So steht es im Grundgesetz. Das bedeutet, dass notwendige Zukunftsinvestitionen etwa in die Digitalisierung, in Künstliche Intelligenz oder Wasserstofftechnologie nicht durch neue, zusätzliche Schulden finanziert werden dürfen, sondern konkret nur die krisenbedingten Mehrausgaben. Die Regierung sollte das genau auseinanderhalten. Andere wichtige Vorhaben müssen anders finanziert sein.
Während die Schulden steigen, brechen die Steuereinnahmen weg. Was bedeutet das für die Haushaltspolitik?
SCHELLER Ich bin in großer Sorge. Wir erleben gerade die totale Umkehr der Verhältnisse der letzten Jahre. Wir hatten Wachstum mit immer höheren Steuereinnahmen, fallende Zinsund Sozialausgaben und ein Defizit von null, ja sogar Überschüsse. Jetzt sind die öffentlichen Haushalte im Zangengriff: einbrechende Steuereinnahmen, steigende Sozialausgaben und zusätzliche Ausgaben für die Krisenbewältigung. So steigt die Neuverschuldung an, und zwar rasend schnell: Innerhalb von nur zwei Jahren wächst die Bundesschuld 2020 und 2021 auf einen Schlag um 30 Prozent von 1000 auf dann 1300 Milliarden Euro. Die 1000 Milliarden haben sich davor über 70 Jahre Bundesrepublik langsam aufgebaut. Und künftig gewinnen die vorhandenen Kostentreiber weiter an Bedeutung: die Gesellschaft altert, der Klimawandel schreitet voran, Investitionen in die analoge und digitale
Infrastruktur sind notwendig.
SPD, Grüne und Linke hinterfragen die Regeln der Schuldenbremse und wollen Investitionen dauerhaft mit einer höheren Neuverschuldung finanzieren. Wie beurteilen Sie diese Position?
SCHELLER Die Schuldenbremse verschafft genügend Handlungsspielraum und hat sich bewährt. Sie stand einer expansiven Finanzpolitik in guten Zeiten nicht entgegen und erlaubt schnelle Hilfen in der Krise. Sie schützt aber auch künftige Generationen, die ihre Haushalte selbst bestimmen sollen. Sie dürfen in dieser Freiheit nicht eingeschränkt werden, indem sie gezwungen sind, große Teile des Haushalts für Zinszahlungen auf eine stark erhöhte Bundesschuld zu leisten, die Vorgängergenerationen aufgetürmt haben. Die Schuldenbremse darf deshalb nicht angetastet oder uminterpretiert werden.
Die Kritiker argumentieren, mehr Zukunftsinvestitionen seien ja gerade im Interesse künftiger Generationen. Ist das denn falsch?
SCHELLER Nein, das stimmt. Deshalb ist die Politik stets verpflichtet, Schwerpunkte zu setzen und Ausgaben zu priorisieren. Deshalb macht die Schuldenbremse ja auch so viel Sinn: Sie zwingt die Politik zur Priorisierung. Wenn die Politik mehr in Zukunftsprojekte investieren will, muss sie Ausgaben an anderer Stelle kürzen. Das erfordert Mut und Entschlossenheit.
Wo könnte gekürzt werden? SCHELLER Nur einige von vielen Beispielen: Die nächste Bundesregierung sollte endlich auf das klimaschädliche Dieselprivileg verzichten. Es führt zu Mindereinnahmen von mehr als acht Milliarden Euro jährlich. Diesel darf an der Tankstelle nicht mehr geringer besteuert werden als Benzin. Oder die Subventionierung des Dieselverbrauchs ganzer Busflotten im ÖPNV, anstatt ökologische Kriterien anzulegen. Auch die steuerliche Förderung von Handwerkerleistungen gehört abgeschafft, denn das boomende Handwerk braucht keine weitere staatliche Unterstützung, auch nicht in Corona-Zeiten.