Der Meteor Dürrenmatt
Der Schriftsteller, der vor 100 Jahren geboren wurde, war einer der sonderbarsten Denker des 20. Jahrhunderts. Viele Dramen und Romane sind heute noch Bestseller. Literarisches Wirken vergleicht er mit Himmelsphänomenen.
Bloß weg aus der Schweiz! Bloß keine große Feier, keine Ansprachen, keine Hymnen. Friedrich Dürrenmatt graute es vor seinem 70. Geburtstag und der scheinbar albernen Sitte, ein rundes Geburtsjahr zum Anlass zu nehmen, das Leben eines Menschen zu würdigen. Wie groß die Not gewesen sein muss, zeigen seine „Fluchtpläne“: Eine gut zweiwöchige Asienreise hatte seine Frau Charlotte Kerr ersonnen. Nach Bangkok sollte es gehen und zu den thailändischen Königsstädten, nach Hongkong und Hawaii. Das ist für jeden fast 70-Jährigen eine Kraftanstrengung, für Dürrenmatt, der seit seinem 30. Lebensjahr unter schwerer Diabetes litt, musste es eine Tortur werden. Und überdies eine Absurdität: Am liebsten blieb Dürrenmatt da, wo er lebte, verzichtete auf spektakuläre Ereignisse und wagte sich den größten Teil seines Lebens keine 100 Kilometer fort von seinem Geburtsort Stalden im Kanton Bern.
Zu der abenteuerlichen Asien-Reise ist es dann auch nicht mehr gekommen. Wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag stirbt Dürrenmatt in seinem Haus in Neuchâtel an Herzversagen. Es ist der 14. Dezember 1990.
Ein besonderes, mitunter sonderbares Leben ist es gewesen, das Dürrenmatt führte, das schon in jungen Jahren vorbestimmt zu sein schien. Offenbar galt es nur noch zu klären, ob er Schriftsteller oder Künstler werden soll. Eins von beiden; anderes zieht der junge Mann für sich nicht in Betracht.
Diese Gewissheit ist erstaunlich für einen Autor und Intellektuellen, der immer skeptisch geblieben ist gegenüber Wissen und Erkenntnis. Der haderte mit der Welt und ihrem Fortgang. Nicht aber, weil ihn vieles nicht interessierte. Sein distanzierter Blick auf das menschliche Treiben speiste sich aus einer humanistischen Bildung, die „Fritze“schon in jungen Jahren als Pfarrerssohn genießen durfte. Er widmete sich wissenschaftlichen Errungenschaften mit eifrigem Bemühen. Dazu gehörte der Besuch der Forschungsanlage Cern für Experimentalphysik 1974, auf Vermittlung und in Begleitung des niederrheinischen Dichters Albert Vigoleis Thelen.
Auch für seine Rolle als Schriftsteller fand er ein naturwissenschaftliches Bild: das des Meteors. Eine strahlende Erscheinung am Himmel sei das, die aber doch schnell verglühte. Ein kurzer Augenblick gilt die Aufmerksamkeit dem Meteor, dem Autor, doch wenn er auf die Erde schlägt, hinterlässt er einen Krater, der auf immer Spuren hinterlässt.
Und welche Spuren sind das bei Dürrenmatt, der heute seinen 100. Geburtstag feiern könnte? Vielleicht ist es sein Vorteil, dass er nicht in eine Schublade zu stecken und mit einem Schlagwort zu belegen ist. Dramatiker? Erzähler? Krimiautor? Essayist? Drehbuch- und Hörspielautor? Dürrenmatt war alles, und alles auf seine eigene Art. Ein Solitär. Dürrenmatt ist sein Werk, und sein Leben sowie alles Persönliche ist diesem Werk untergeordnet. Typisch, dass er nie in die Versuchung einer Autobiografie kam. Typisch, dass er sie dann doch schrieb, mit dem Projekt der „Stoffe“, das er 1969 begann und das kurz vor seinem Tod auf neun Teile angewachsen war. Ein Materialsammlung, bei der Leben
und Schreiben durcheinandergehen. Die „Geschichte meiner Schriftstellerei“ist der Untertitel.
Es ist eine Erfolgsgeschichte. „Der Besuch der alten Dame“und „Die Physiker“sind millionenfach aufgelegte Schullektüre; Dauerbrenner sind „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“, „Das Versprechen“, „Justiz“. Neben Bertolt Brecht ist Dürrenmatt einer der meistgespielten Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen.
So grandios unterschiedlich dieses Werk auch ist, es gibt zentrale Motive, um die der Meteor Dürrenmatt kreist. Um die Frage nach Moral und Selbstjustiz, die Verantwortung von Wissen, den Sinn unserer im Labyrinth gefangenen Existenz und das Problem von Schuld und Sühne. Viel von dem ist Gegenstand in „Der Besuch der alten Dame“, dem dramatischen Auftritt der steinreichen Claire Zachanassian, die in ihrem Heimatdorf Güllen alte Schuld mit Mord gerächt haben will. Natürlich ist damit die deutsche Aufarbeitung vergangener Schuld des Völkermordes gemeint.
Dürrenmatt, der als Schüler zeitweilig selbst Sympathien für Hitler gehegt hatte und dies später politische Naivität nannte, zweifelte an der aufklärerischen Wirksamkeit von Literatur. Tragödien, so heißt es im Essay „Theaterprobleme“von 1955, sind in der Welt des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß: „Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe.“
Was also tun mit diesem Autor in einer Welt, die scheinbar noch grotesker wurde und die mit immer mehr Wissen die Probleme nicht kleiner, sondern größer machte? In einer Totenrede auf den befreundeten Schweizer Theaterregisseur Kurt Hirschfeld sagte Friedrich Dürrenmatt: „Die Trauer ist menschlich, doch führt sie nicht weiter. Was allein weiterführt, ist der Mut, sich den Tatsachen zu stellen, die der Tote setzt. Es ist das, was Tote hinterlässt.“Es ist der Aufruf, Dürrenmatt zu lesen. Zum 100. Geburtstag. Und darüber hinaus.