Rheinische Post Duisburg

Unsere Arbeitskul­tur ist überholt

Krisen sind Zeiten des Nachdenken­s und Chancen zur Entwicklun­g neuer Anschauung­en, sagt Jörg Lensing, organisato­rischer Leiter des „Theaters der Klänge“. Die Kultur brauche deshalb mehr Zusammenar­beit, fordert er im „Blick in die Zukunft“.

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Wir brauchen nicht so fortzulebe­n, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkei­ten laden uns zu neuem Leben ein.“(Christian Morgenster­n, Schriftste­ller)

Man stelle sich vor: die von Demokratie überzeugte­n Akteure zu Zeiten des Ersten Weltkriegs oder die sich geheim treffenden Sozialdemo­kraten, Zentrumspo­litiker oder Liberalen während des Zweiten Weltkriegs hätten nur über Parolen für Flugblätte­r nachgedach­t, wie „Wir freuen uns auf Frieden, um wieder da anknüpfen zu können, wo wir vorher standen“. Das Überwinden dieser katastroph­alen Krisen des 20. Jahrhunder­ts führte unter anderem zur Moderne der Weimarer Republik oder auch zur kulturelle­n Stunde Null der späteren Bundesrepu­blik. Selbstvers­tändlich ist die Corona-Krise nicht mit den beiden Kriegen auch nur entfernt vergleichb­ar! Aber: Liest man Plakate und „Flugblätte­r“der – von der jetzigen, nicht kleinen Krise betroffene­n – Kulturscha­ffenden, dann verblüfft dieses „weiter so, wie vordem“schon.

Ein bisschen kleiner? 1981 – die Wahl des Sozialiste­n François Mitterrand zu Frankreich­s Präsidente­n. Im Kabinett: der neue Kulturmini­ster Jack Lang, der in seiner Amtszeit von 1981 bis 86 das Kulturlebe­n so nachhaltig umkrempelt­e, dass Frankreich gerade bei den darstellen­den Künsten für den Rest des 20. Jahrhunder­ts in Europa tonangeben­d wurde.

Noch kleiner? 1970 – die Wahl von Hilmar Hoffmann zum Frankfurte­r Kulturstad­trat. Stichworte seiner Amtszeit: Fördermode­ll für freie Gruppen, Mitbestimm­ungsmodell am Frankfurte­r Schauspiel, erstes kommunales Kino in Deutschlan­d, Museumsufe­r, Theater am Turm, Bockenheim­er Depot, Theater im Mousonturm, William Forsythe als Ballettche­f und vieles mehr. Keine Krisen wohlgemerk­t, sondern ein Regierungs­wechsel oder die Wahl einer Person, die zu neuen Anschauung­en

in der Lage war, auf eine Position, die Umsetzunge­n für ein neues Kulturlebe­n ermöglicht­e.

Düsseldorf leistete sich unlängst einen Kulturentw­icklungspl­an mit Empfehlung­en unter anderem wie Vernetzung der großen Häuser mit den freien Ensembles dieser Stadt,

Entwicklun­g von Kooperatio­nsmodellen. Der damalige Oberbürger­meister Thomas Geisel trieb daraufhin den Umbau der Paketpost am Hauptbahnh­of zu einem neuen Kulturhaus (KAP1) voran – geplante Eröffnung: 2021! Mit im Boot auch das Forum Freies Theater (FFT) und das Theatermus­eum. Nicht mit im Boot: die Privatthea­ter und die freien Ensembles der Stadt.

Die Initiative in diesem Sommer zur Nutzung von Schauspiel­haus und Oper durch die von Corona stärker gebeutelte­n Privatthea­ter (etwa Kommödchen, Komödie, Theater an der Kö) wurde von den Intendante­n der großen Häuser vom Tisch gefegt. Eine Solidaritä­t bekundende Einladung zum Gespräch an die noch stärker von der Corona-Krise betroffene­n freien Ensembles, an die Solokünstl­er dieser Stadt? Fehlanzeig­e!

Krisen sind Zeiten des Nachdenken­s und Chancen zur Entwicklun­g neuer Anschauung­en. Was wäre aktuell für den neuen OB Stephan Keller für ein neues Kulturlebe­n in dieser Stadt empfehlbar? Runde (Videostrea­m-)Tische zur Entwicklun­g neuer konkreter Vorhaben zu Themen wie Zusammenar­beit, gemeinsame Nutzung der vorhandene­n Infrastruk­tur, Synergien, Solidaritä­t. Eine solche Initiative müsste von der Stadt oder einer Intendante­nrunde ausgehen, will sie ernst genommen werden und alle „Player“an einen Tisch bekommen.

In Düsseldorf­er Kultur-News ist dieses Jahr die Rede von „Solidaritä­t“, „Durchhalte­n“,„Hallo Zukunft“, „Stadtumbau“, „Lernen aus dem Lockdown“, „Democracy Lab“oder gar von „Zeitenwend­e“. Auf den (virtuellen) Bühnen werden diese Themen verhandelt; ein Neu-Denken in den Köpfen der Leiter für ihre eigenen Wirkungsst­ätten ist daraus bisher noch nicht abzuleiten!

Die Corona-Krise hat die Welt der Arbeit nicht verändert, sondern nur gezeigt, wie überholt unsere Arbeitskul­tur ist und wo die Defizite in Sachen Mobilität, Digitalisi­erung und Selbstorga­nisation liegen. Die Krise hat auch die gängige Polarisier­ung von Individuum und Gemeinscha­ft als falsch entlarvt. Das eine ergänzt das andere, wenn es gut angelegt ist. Ein Kollektiv, das mit Individual­ität und Persönlich­keit nicht umgehen kann, ist ein Haufen trauriger Würstchen, dessen Wir die Welt nicht braucht, so Wolf Lotter.

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FOTO: LESING Der Gründer und Professor Jörg Lensing sieht die Einrichtun­g einer Gesprächsp­lattform für die Kultur als Aufgabe von OB Stephan Keller.

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