Das Seitz-Phänomen
Obwohl er selbst fast an Covid-19 gestorben wäre, bleibt der AfD-Abgeordnete Thomas Seitz dabei: Es gibt keine Pandemie. Warum er und so viele andere die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen, kann die Psychologie erklären.
Es hat viele Menschen bewegt und die Frage in den Mittelpunkt geschoben, wie das sein kann: Ein AfD-Abgeordneter infiziert sich mit dem Coronavirus, erkrankt schwer, kämpft lange mit dem Tod, und als die Ärzte sein Leben retten, stellt er als erstes fest: Es gibt keine Pandemie. Die psychologische Wissenschaft hat dafür eine hochinteressante Erklärung. Und sie sieht auch Bezüge zum jüngsten Verhalten von US-Präsident Donald Trump.
Thomas Seitz zog im September die Aufmerksamkeit auf sich, als er provozierend mit einer Netzmaske zum Rednerpult des Bundestags ging. Auch „Querdenken“-Demonstrationen begleitete er lächelnd. Doch dann verschwand er von der Bildfläche. Er habe sich „eine Grippe“eingefangen, sagte sein Büro, als die Heimatzeitung seines Wahlkreises im baden-württembergischen Lahr nachfragte. Doch nun musste er einräumen, dass er in Wirklichkeit an Covid-19 erkrankt war. Er dankte von Herzen allen Ärzten und Klinik-Mitarbeitern, die „mein Überleben trotz schlechter Prognose ermöglicht“haben. Seine Frau habe „lange Zeit mit meinem Ableben rechnen müssen“.
Seitz betonte, weder die Existenz des Virus noch dessen Gefährlichkeit in Abrede gestellt zu haben. Das hörte sich ausweislich der regionalen Berichterstattung über eine AfD-Veranstaltung im September anders an. Dort wird Seitz wörtlich zitiert mit seiner Einschätzung: „Die Krankheit Covid-19 gibt es in Statistiken, aber nicht in der Realität.“
Mag er dabei nun seine Meinung durch eigene Betroffenheit geändert haben, so bleibt er doch dabei, dass es „unverändert keine Pandemie“gebe. Er macht das daran fest, dass drei Viertel der Intensivbetten nicht durch Covid-19-Patienten belegt würden. Dem widerspricht Georg Braun, der Hauptgeschäftsführer
der Deutschen Krankenhausgesellschaft, ganz massiv: „Wir haben es definitiv mit einer Pandemie erheblichen Ausmaßes zu tun“, sagte Braun unserer Redaktion.
In den Krankenhäusern müssten derzeit rund 25.000 Covid-19-Patienten behandelt werden, davon fast 6000 intensivmedizinisch. Das Regelkrankheitsgeschehen, wie Infarkte, Unfälle und Operationen, binde in größerem Ausmaß intensivmedizinische Kapazitäten. Die Versorgung von Covid-19-Patienten erfordere daneben deutlich höhere Personalressourcen. Deshalb sei ein „hoher Belastungsgrad im System insgesamt erreicht, in vielen Kliniken vor Ort zum Teil bereits überschritten“. In den ersten Monaten der Pandemie hatten es die Befürworter von Masken und Abstand immer wieder mit dem Hinweis vieler Gefahren-Leugner zu tun, sie wüssten von keinem einzigen Corona-Fall. Seinerzeit herrschte die Erwartung vor, die Verweigerer würden schon zur Vernunft kommen, wenn sich die Fälle häuften, die sie selbst wahrnehmen können – erst Recht, wenn sie selbst betroffen sein würden.
Das andauernde, leichtsinnige, teils aggressiv demonstrierte Beharren auf ihrer Position selbst in den am übelsten von Corona betroffenen Gebieten macht die Maskenverweigerer zu einem Phänomen. Psychologie-Professor Borwin Bandelow (Göttingen) liefert verblüffende Erklärungsansätze. Er verweist auf die Verantwortung des Angstsystems im Gehirn. Dieses könne nicht mit Fakten umgehen und sei zur Zeit bei vielen Menschen überfordert. Auf sie prasselten so viele Regeln und Statistiken ein, vom R-Wert über die täglichen Todeszahlen bis hin zu der Fragwürdigkeit der Daten am Wochenende, dass viele Menschen einfach überfordert seien. Das Vernunftsystem im Gehirn sei darauf trainiert, verschiedenste Wahrscheinlichkeiten so auszutarieren, dass daraus die eigene Befindlichkeit ermittelt
„Wenn ich etwas erfinde und die Leute glauben das, habe ich psychologische Macht ausgeübt“Borwin Bandelow Psychologie-Professor