Rheinische Post Duisburg

Der einsamste Baum der Welt

- VON REBEKAH LYELL UND CAROLA FRENTZEN

Eine Sitka-Fichte hat es von Nordamerik­a auf eine subantarkt­ische Insel geschafft. Sie gibt gleich mehrere Rätsel auf.

CAMPBELL ISL./WELLINGTON (dpa) Der einsamste Baum der Welt wächst zwischen Neuseeland und der Antarktis auf einem verlassene­n Fleckchen Erde. Die einzelne Sitka-Fichte auf Campbell Island hat es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, weil sie den wilden Winden der unwirtlich­en Region zum Trotz auch ohne die Gesellscha­ft von Artgenosse­n überlebt hat. „Es wird angenommen, dass der abgelegens­te Baum überhaupt eine einsame Fichte auf Campbell Island ist, deren nächster Kollege wohl über 222 Kilometer entfernt auf den Auckland-Inseln steht“, heißt es in dem Eintrag.

Aber sowohl der genaue Ursprung als auch das Alter des Sonderling­s sind bis heute ein Rätsel – trotz eingehende­r Forschunge­n. Eine Theorie besagt, dass der Earl von Ranfurly, der 15. Gouverneur von Neuseeland, den Baum zwischen 1901 und 1907 gepflanzt haben soll. Deshalb wird die Fichte auch manchmal „Ranfurly-Baum“genannt.

„Angesichts der Geschwindi­gkeit, mit der der Baum wächst, glaube ich aber nicht, dass er bereits so früh gepflanzt wurde“, sagt Jonathan Palmer von der Universitä­t von New South Wales. Er war eigens nach Campbell Island gereist, um dem Baum seine Geheimniss­e zu entlocken. Jedoch gaben die entnommene­n Kernproben keinen endgültige­n Aufschluss über das Alter, weil sie nicht bis zum Mark des Baums reichten.

Sicher ist: „Die Sitka-Fichte auf Campbell Island ist sehr weit weg von zu Hause“, wie der Wetterbeob­achter Mark Crompton erklärt, der an zahlreiche­n Expedition­en in die Region teilgenomm­en und dort mehrere Jahre verbracht hat. Denn diese Art von Fichte ist eigentlich in Nordamerik­a beheimatet, wo sie zwischen Alaska und Kalifornie­n gedeiht – also sprichwört­lich am anderen Ende der Welt.

Es sei geradezu ironisch, dass es sich um eine nicht-heimische, eingeführt­e Spezies handle, die dort auf dem geschützte­n Eiland wachse, sagt Palmer. „Der Baum ist aus historisch­en Gründen dort, aber genau genommen sollte er entfernt werden, da er das Potenzial hat, Samen zu produziere­n und so für Probleme zu sorgen.“Weil sie als invasive Art gilt, wird die Fichte auch von den Naturschut­zbehörden überwacht.

Jedoch wurden bisher noch keine lebensfähi­gen Samen oder Zapfen gefunden.

Bei idealen Bedingunge­n können Sitka-Fichten bis zu 100 Meter hoch werden. Aber die subantarkt­ische Insel im Pazifik ist nicht gerade für schönes Wetter bekannt. Es regnet durchschni­ttlich 325 Tage im Jahr, bei nur etwa 600 Sonnenstun­den. „Das totale Elend. Da hängen immer niedrige Wolken und es nieselt

unaufhörli­ch“, erzählt Crompton. Dennoch ist der Baum gesund – auch wenn er bis heute gerade einmal zehn Meter hoch gewachsen ist. „Er ist gedrungen und wächst in die Breite, weil er ständig vom Wind gepeitscht wird.“

Auf Fotos sieht es so aus, als wäre der Baum gar nicht so einsam, ist er doch von reichlich Grün umgeben. Jedoch handelt es sich bei den Nachbarpfl­anzen um Sträucher, Gräser,

Farne und Heidekraut­gewächse, nicht aber um Bäume.

Dass die Fichte nie in vollem Glanz erstrahlt ist, könnte auch mit den Wissenscha­ftlern zu tun haben, die seit vielen Jahren auf Campbell Island Forschunge­n zur örtlichen Flora und Fauna anstellen. Ein Gerücht besage nämlich, dass diese alljährlic­h die Spitze gekappt hätten, um sie als Weihnachts­baum zu nutzen, sagt Aaron Russ, dessen Eltern seit 1984 mit ihrem Unternehme­n „Heritage Expedition­s“die Region bereisten. Heute leitet er die Firma mit seinem Bruder.

Der Vater war Botaniker, und das erklärte Ziel der Familie war und ist es, mittels verantwort­ungsvoller Expedition­sreisen das Bewusstsei­n der Menschen für die Natur und für deren Schutz zu stärken. „Die einsame Sitka-Fichte ist zwar physisch unauffälli­g, aber kulturell sehr wichtig“, ist Russ überzeugt. Denn Forscher fanden heraus, dass die entnommene­n

Proben ein potenziell­er Marker für den Beginn des Anthropozä­ns darstellen könnten – einem Begriff für ein neues Erdzeitalt­er, in dem der Mensch signifikan­t Einfluss auf die Natur genommen hat.

Ganz Campbell Island ist derweil ein bedeutende­s Naturschut­zgebiet, das alljährlic­h gleicherma­ßen Tierund Pflanzenli­ebhaber sowie Wissenscha­ftler in die subantarkt­ische Region lockt. Der britische Botaniker Joseph Hooker schwärmte einst, die Insel besitze eine Flora, „die außerhalb der Tropen einmalig ist“. Auch die Fauna kann sich sehen lassen: Auf Campbell Island leben zahlreiche seltene Vogelarten, viele davon endemisch. „Campbell Island ist ein Schatz für die ganze Welt. Neuseeland hat nur das Glück, ihr Verwalter zu sein“, sagt Russ. Und zu dem Schatz gehört auch ein kleiner, einsamer Baum, der allen Widrigkeit­en trotzt – und noch immer Rätsel aufgibt.

 ?? FOTO: P. TISCH/DPA ?? Besucher der subantarkt­ischen Campbell Island stehen vor der einzelnen Sitka-Fichte, die nur von Sträuchern und Gräsern umgeben ist.
FOTO: P. TISCH/DPA Besucher der subantarkt­ischen Campbell Island stehen vor der einzelnen Sitka-Fichte, die nur von Sträuchern und Gräsern umgeben ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany